Ausgabe 06/2025
Weihnachten alles inklusive

Thorsten Nagelschmidt:Nur für Mitglieder
Von Stephen King stammt der wertvolle Hinweis, eine gute Geschichte bestehe oft aus der Kombination zweier Ideen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Der Musiker und Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt treibt dieses Prinzip in seinem neuen Werk Nur für Mitglieder auf die Spitze. Einfall eins: Er mag Weihnachten nicht, weil es die Ausgeburt der Familienideologie ist. Einfall zwei: Er hat noch nie die Fernsehserie Die Sopranos gesehen und will diese Bildungslücke schließen. Viele Lektoren hätten wohl die Stirn kraus gezogen bei einem solchen Pitch. Bewährter Autor hin oder her. Immerhin – der verdienstvolle März-Verlag ließ ihn machen.

Was Nagelschmidt aufgeschrieben hat, ist ein herausragendes Stück essayistischer Literatur. Der Ich-Erzähler verbarrikadiert sich in den Weihnachtsferien allein in einem All-Inclusive-Resort auf Gran Canaria, was nicht sein natürliches Urlaubshabitat ist. Im Gepäck: ein DVD-Player und alle Staffeln der Sopranos, die er sich binnen weniger Tage ansehen will. 86 Stunden. Unterbrochen von Ausflügen zum Essen, zum Pool oder in die umliegenden Lokale. Dabei blickt der Protagonist nie herab auf die anderen Touristen, sondern denkt darüber nach, was der Drang zu Konsum und Konkurrenz mit Menschen macht.
Womit wir beim Weihnachtsfest wären, das als Vorlage dient für schwere Themen wie Depressionen, Armut und Vereinzelung. Die Belesenheit des Autors wird sichtbar, ohne dass es prahlerisch wirkt. Das liegt an der Sprache, die tastend ist, emotional auch, und manchmal einfach Ratlosigkeit vermittelt. Bei der Erstauflage fehlte noch der Genre-Hinweis "Roman", der in der zweiten Auflage nun doch dasteht. Im Text gibt sich Nagelschmidt kaum Mühe, den autobiografischen Kern der Erzählung zu verbergen. Das tut dem Werk gut. Verleiht es ihm doch eine Ebene, die das lesende Publikum zur Selbstreflexion zwingt. Wie voyeuristisch bin ich eigentlich?
So bleibt der Eindruck, dass Nagelschmidt es aufnehmen kann mit seinem Vorbild David Foster Wallace, auf das er sich bezieht. Ein großer Schriftsteller, der ebenfalls an Depressionen litt. Und daran zugrunde ging. Die Hoffnung ist nicht unbegründet, dass es bei Thorsten Nagelschmidt ganz anders kommen wird. Ein Happy End, das die Macher der Sopranos ihren Fans noch verweigert haben. Zumindest ist das die gängige Interpretation. Aber das ist eine andere Geschichte. Christian Baron
März Verlag, 236 S., 24 €

Verena Keßler: Gym
Beine und Bauch, Rücken und Schultern, Brust und Po: Alles wird professionell bearbeitet und perfektioniert – willkommen im Mega Gym, einem ganz normalen Fitnessstudio, dem Dreh- und Angelpunkt dieses furiosen Romans. Dort fängt eine Frau als Tresenkraft an; sie mixt Drinks, reinigt die Sportgeräte und genießt die entspannte Atmosphäre. Irgendetwas ist in ihrem Leben schiefgelaufen, aber was, wird beim Lesen zunächst nicht klar. Je länger die namenlose Hauptfigur im Mega Gym arbeitet, umso mehr wird sie vom Körperkult angesteckt. Sie beginnt mit Cardiotraining, findet Spaß am Schwitzen und bestaunt eine Bodybuilderin, die täglich ins Mega Gym kommt. So perfekt will sie auch aussehen, also stemmt sie immer schwerere Gewichte und bringt sich radikal in Form mit Kickbacks, Deadlifts, Crunches und Flys. Ihr Fitnesswahn eskaliert, und dahinter kommt ihr Kampf um Anerkennung zum Vorschein, ihr Scheitern im vorherigen Job. Verena Keßler erzählt trocken und rasant, und ihre kurze Geschichte um Selbstoptimierung und Karrierewahn ist gespickt mit absurden Situationen. Ein starker Roman, der viel über unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsform aussagt. Günter Keil
Hanser Berlin, 192 S., 23 €

Rainer Imm: Free Solo
Nicht vielen Menschen gelingt der gesellschaftliche Aufstieg. Einmal Arbeiterkind, immer Arbeiterkind – so ist das vielfach noch heute. Doch der Ich-Erzähler dieser Geschichte schafft es, sich aus der Welt des Kneipensohnes, in der nicht selten die Faust regiert, zum angesehenen Literaturdozenten an der Universität emporzubilden. Er hat eine ebenso kluge Frau und zwei erwachsene Kinder, am Bauch etwas zugelegt, aber was soll's, gibt Schlimmeres. Der Roman beginnt an dem Punkt, als diese heile Welt buchstäblich mit einem Schlag auseinanderbricht. Rainer Imm erzählt nun aber nicht wortgewaltig vom Aufstieg und Fall eines Mannes aus dem Arbeitermilieu, wo oftmals die Macht des Stärkeren regiert. Vielmehr begibt er sich in Rückblicken und Gegenblenden mit seinem Ich-Erzähler auf die große Frage nach der eigenen Herkunft und wie sie uns ein Leben lang begleitet. Für seinen Romanheld bricht eine Welt zusammen, aber eine neue tut sich auf. So ist das schon in seiner Kindheit und Jugend gewesen, in der es wichtig war, Freunde fürs Leben zu haben. Und so ist es auch in seiner Gegenwart, in der ihm sein bester Freund, alte Kletterseilschaften und eine alte Liebe wieder neuen Halt geben. Sehr ergreifend und berührend. Petra Welzel
Omnino Verlag, Berlin 2025, 228 S., 16 €