Ein Ort für die Lebenden

Im Himmel unter der Erde – Der jüdische Friedhof Weissensee | Für einen Ort stillen Gedenkens ist hier echt was los. Auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee irren Schülergruppen umher und versuchen, den komplizierten Liegeplan zu entschlüsseln. Russische Angehörige durchforsten das dichte Efeugestrüpp auf der Suche nach dem Grab des lang Verstorbenen. Eine junge Frau huscht im Minirock durch die Baumreihen. Auch die zwei Vogelkundler könnten ihre Beine bewundern, gingen sie nicht gerade in den Baumkronen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit der Greifvogelerfassung nach – auch dafür bietet der abgelegene und verwunschene Friedhof die notwendige Stille. Die Regisseurin Britta Wauer hat über diesen Ort einen sehr berührenden Dokumentarfilm gedreht, der bei der Berlinale den Publikumspreis erhielt.Die meisten der 115000 Gräber sind von der Natur längst überwältigt, umgekippt, überwuchert. Seit Kriegsende hatte die Ostberliner jüdische Gemeinde erfolglos gegen das Wurzelwerk gekämpft – der Friedhof, der nie zerstört wurde, ist mit seinen 42 Hektar einfach zu groß. Seit der Wende geht es dem Gestrüpp nun an die Blätter. Denn ein jüdischer Friedhof ist für die Ewigkeit angelegt. Noch mehr erzählt der alte Rabbi vor Wauers Kamera und manchmal kichert er dabei: Wenn er den Kollegen erwischen könnte, der damals den Wohlhabenden erlaubt hat, prachtvolle Mausoleen auf das Gelände zu stellen, wo doch im jüdischen Glauben alle Seelen gleich und alle Grabsteine einfach und schmucklos sein sollen, na, dem würde er aber was erzählen.In einfühlsamen Gesprächen mit Besuchern aus aller Welt verknüpft die Dokumentation die Geschichte des Friedhofes mit der von Berlin. So erzählt ein älterer Herr von seiner Jugendzeit. Jüdische Kinder, die wegen der allgegenwärtigen Gefahr nicht auf der Straße spielen konnten, verbrachten hier ihre Zeit. Auch seine Jugendliebe war dabei, ein Mädchen mit blonden Zöpfen. Eines Tages war sie nicht mehr da. Deportiert. Viele Jahre später hat er seine Tochter nach ihr benannt. Eine junge Kleinfamilie wiederum hat eine Wohnung im Hauptgebäude ergattert. Es gefällt ihnen, inmitten der Ruhe und der Natur zu wohnen. Nur nachts, wenn die Füchse schreien, wurde ihnen anfangs etwas klamm ums Gemüt. Mittlerweile sind sie daran gewöhnt. Jenny Mansch

DOKUMENTARFILM VON BRITTA WAUER, 90 MINUTEN, KINOSTART: 7. APRIL


Passione! | Schöne Falten. Schiefe Zähne. Speck auf den Hüften. Ungewohnte Tätowierungen: Schon der Anblick dieser Musiker und Musikerinnen verspricht ein Abenteuer. Und Begeisterung für den Sound von Neapel. Es ist die vierte Regiearbeit des US-Schauspielers John Turturro, berühmt für skurrile Rollen in den Filmen der Gebrüder Coen. In seinem dokumentarischen Musical lockt er als Fremdenführer zu Straßen und Stränden, überlässt die lebenslustig verfallende Stadt zwischen Bucht und Vulkan dann den Stimmen all seiner Künstler. Die im Mix von Blues, Pop, Jazz über Reggae bis zu einem nordafrikanischen O Sole Mio zeigen, was sie haben: überraschend viel. Gefahr, Sex und Armut sind die Themen Neapels und der Lieder seiner Bevölkerung. Die seit jeher die Kinder der Invasoren angenommen habe, ob Normannen, Spanier oder GIs. Doch Passione! ist kein Integrationsmärchen für Volksweisenliebhaber. Dafür ist es oft zu ehrlich, manchmal zu witzig, gelegentlich seltsam und immer zu leidenschaftlich. jv

I/USA 2010. R: JOHN TURTURRO. D: PIETRA MONTECORVINO, MAX CASELLA, MISIA, M’BARKA BEN TALEB, 96 MIN., KINOSTART: 7.4.11


Bad Boy Kummer | Es ging und geht um alles. Um die Wahrheit. Damals, vor gut zehn Jahren, als Tom Kummer einen der größten Skandale in der deutschen Mediengeschichte verursachte. Und heute wieder, in diesem Dokumentarfilm, der den berühmten Fall nachzeichnet und jenseits der Fakten nicht mehr und nicht weniger ergründen will als: die Wahrheit. Kummer, der seine spektakulären Gespräche mit Prominenten wie Pamela Anderson, Sharon Stone oder Mike Tyson einfach erfunden hatte und damit Chefredakteure zu Fall brachte, lebt heute in Los Angeles als Tennislehrer und bereut nichts. Er sieht sich nicht als Betrüger, sondern als Pionier im Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Fiktion, als einen Künstler, der kreativ mit der Realität arbeitet. Deshalb ist Bad Boy Kummer mehr als nur die Nacherzählung einer bizarren Eulenspiegelei. Regisseur Miklós Gimes, einst selbst einer der von Kummer Betrogenen, hinterfragt den Wahrheitsgehalt seiner filmischen Wahrheitssuche ohne Unterlass aus dem Off. Das Ergebnis ist ein Film über die Krise eines Berufsstandes und das Dilemma, in dem der Journalismus viel öfter steckt, als ihm lieb sein kann: Dass die scheinbar so schlichte Frage nach der Wahrheit nur sehr selten eindeutig zu beantworten ist. to

CH/D 2010, R: MIKLÓS GIMES, D: TOM KUMMER, 92 MIN., KINOSTART: 5.5.11


Alles was wir geben mussten | Von monströsen Verbrechern, die Menschen Organe stehlen, hat man schon gehört. Und ganz abwegig erscheint es nicht, dass Zweiklassengesellschaften, in der Privilegierte auf Kosten Mittelloser leben, auf ähnlich makabre Ideen kommen könnten, wie sie Mark Romanek nach Ishiguros gleichnamigem Science Fiction entwickelt: Klonmenschen als „Ersatzteillager“ heranzuzüchten. Schleichend dringt der Horror in die zunächst harmlos einsetzende Geschichte um die befreundeten Protagonisten Kathy, Ruth und Tommy. Das Internat, in dem sie groß werden, ist ein Herrenhaus in schönster englischer Landschaft, alles scheint darauf ausgerichtet, die Kinder fürsorglich aufzuziehen. Bis eine mutige Lehrerin das Schweigen bricht. Doch die Betroffenen können sich selbst nicht helfen. Sie sind in ihrem Willen gebrochen, fügen sich widerstandslos in ihr Schicksal, glauben, dass sie als „Spender“ ihren Lebenssinn erfüllen. Ein brisanter, großartiger, schwer verdaulicher Film. kl

USA 2010. REGIE. MARK ROMANEK, D: CAREY MULLIGAN, KEIRA KNIGHTLEY, ANDREW GARFIELD, CHARLOTTE RAMPLING, U. A., 105 MIN., KINOSTART: 14.4.11