Arbeit soll den Körper und die Psyche nicht gefährden. Das Arbeitsschutzgesetz schreibt Unternehmen sogar vor, für die Beschäftigten die "mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdungen zu ermitteln". In der Praxis hat bisher aber in weniger als der Hälfte aller Betriebe in Deutschland eine Gefährdungsbeurteilung stattgefunden, in nicht einmal einem Viertel eine, bei der auch die psychischen Belastungen untersucht wurden. Das hat der DGB herausgefunden, der mit seinem "Index Gute Arbeit" einen Fragenkatalog entwickelt hat, der in Betrieben eingesetzt werden kann, um die Qualität der Arbeit zu ermitteln. Betriebsräte spielen bei der Gefährdungsbeurteilung eine wichtige Rolle, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

Nach der Gefährdungsbeurteilung ist vor der Gefährdungsbeurteilung – so die Erkenntnis bei Libri in Hamburg. Hier sind etwa 210 Beschäftigte für alle Verwaltungsaufgaben des bundesweiten Buch-Großhändlers zuständig, der zur Unternehmensgruppe der Herz-Familie (Tchibo) gehört. Dort musste der Betriebsrat die Voraussetzungen für die erste Gefährdungsbeurteilung zunächst über eine gerichtliche Einigungsstelle erkämpfen: 2008 bekam Libri Hamburg so erstmals eine Betriebsvereinbarung Arbeits- und Gesundheitsschutz.

"Ein Jahr später starteten wir die Beschäftigtenbefragung für eine Gefährdungsbeurteilung zu psychischen Belastungen", erinnert sich die Betriebsrats- vorsitzende Gabriele Ahmling. Die Ergebnisse seien allerdings nicht vollends zufriedenstellend gewesen. Viel besser lief es 2018 nach Veränderungen in der Leitungsebene des Unternehmens bei der zweiten Befragung.

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"Eine wichtige Entscheidung war, den DGB-Index Gute Arbeit als Grundlage für die Beschäftigtenbefragung zu nutzen", so Gabriele Ahmling. "Den Fragenkatalog kannte ein Großteil unserer Kolleginnen und Kollegen bereits aus der ver.di-Befragung unter Hamburger Einzelhandelsbeschäftigten von 2013. Die fanden viele gut." Nun bereitete der Betriebsrat gemeinsam mit dem Organisationsberater Michael Gümbel auf Basis des DGB-Index die Fragen vor und präsentierte sie der Geschäftsleitung, die noch einige Ergänzungen hatte. Drei Wochen lang konnten die Kolleg*innen im September 2018 die Fragen beantworten. Die spätere Auswertung ergab, dass vor allem die große Arbeitsmenge viele Beschäftigte belastete und es bei der Zusammenarbeit verschiedener Gruppen mancherorts klemmte.

75 Workshops für die Belegschaft

"Nach der Befragung kam eine Workshop-Phase, für jede Arbeitsgruppe drei davon", berichtet die Betriebsratsvorsitzende. Hier seien Probleme nicht nur beschrieben, sondern auch Lösungen erarbeitet worden. Die insgesamt rund 75 Workshops kamen in der Belegschaft gut an, auch weil sie jeweils von Kolleg*innen moderiert wurden, sodass sich die Teilnehmenden in den Runden öffnen konnten. Als sinnvoll für die spätere Umsetzung der konkreten Lösungen erwies es sich, dass die Leitung hier einbezogen wurde. So gehörten auch zwei Führungskräfte zu den Moderator*innen. Bis Mitte 2019 entstand ein Maßnahmenkatalog – sowohl für den Gesamtbetrieb wie für die einzelnen Gruppen. Dazu gehörten Veränderungen der Arbeitsorganisation und der Kommunikation im Unternehmen, um die Arbeitsbelastung zu verringern, ebenso wie der Beschluss, höhenverstellbare Schreibtische für alle anzuschaffen.

Mit der Corona-Pandemie sei dann allerdings vieles gestoppt worden, so die Betriebsratsvorsitzende, denn seit März 2020 arbeiten die meisten Beschäftigten vorwiegend im Homeoffice. In den Büros ging in dieser Zeit die Modernisierung weiter, sodass die Kolleg*innen bei ihrer Rückkehr renovierte Räume mit den neuen Schreibtischen vorfinden werden. Die Arbeitsbelastung werde perspektivisch abnehmen, vermutet Gabriele Ahmling. Schließlich gehe sie zum Teil auf die Einführung neuer Technik zurück: So würden derzeit ein neues Buchhandelssystem und eine neue Telefonanlage sowie Microsoft 365 eingeführt, was einen hohen Schulungsbedarf bedeute.

Mit der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung sind sie hochzufrieden. Alle hätten gespürt, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb einen hohen Stellenwert genieße. Und nach dem Ende der Pandemie steht bereits die nächste Gefährdungsbeurteilung an: Dann soll es um Regelungen zur mobilen Arbeit gehen, da viele Kolleg*innen dauerhaft auch das Homeoffice nutzen wollen; "als Hauptarbeitsplatz das Büro, tageweise mobiles Arbeiten", erläutert Gabriele Ahmling.

Für Anke Thorein vom ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit ist das Verfahren bei Libri ein Musterbeispiel für einen gelungenen Ablauf der Gefährdungsbeurteilung: "Vorbereitung, begleitende Beratung, Einbeziehung aller Akteur*innen und Umsetzung wurden gut vorbereitet und umgesetzt." Dass der DGB-Index Gute Arbeit Grundlage der Befragung war, hätte den Einstieg und den Beteiligungsprozess erleichtert. Warum jedes Mal einen neuen Fragebogen entwickeln, wenn es ein bewährtes Instrument gibt?

So wurde es auch bei der Hamburger Gesundheitsbehörde gehandhabt, wo seit 2013 zwei Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt wurden. "Die Erfahrungen vor allem beim zweiten Mal waren ermutigend", sagt die damalige Personalrätin und Projektleiterin Verena Blix. "Mehr direkte Kommunikation und Einbeziehung der Beschäftigten in Entscheidungsprozesse gehörten zu den konkreten Veränderungen." Angesichts von mehr als 1.000 Beschäftigten in der Behörde mit mehreren Amtssitzen müssten die Arbeitsbedingungen allerdings immer wieder neu überprüft werden.

Nach der Hamburger Wahl 2020 wurde die Behörde in ihrer bisherigen Form aufgelöst. Die Aufgaben seien neu zugeordnet worden. Nun müssten auch wieder Gefährdungsbeurteilungen auf den Weg gebracht werden. Immerhin können die Arbeitnehmervertretungen auf die Vorerfahrungen zurückgreifen.