Im Augapfel des Staates

Schäuble sieht alles

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung wehrt sich gegen die staatliche Datensammelwut und vereint dabei die verschiedensten Gruppen hinter sich

Als 1987 die Volkszähler in Deutschland von Haus zu Haus zogen und auf ihren Fragebögen festhielten, wer dort wohnte, was er verdiente, ob er Männlein oder Weiblein war, erreichten die Bürgerproteste in unserem Land einen weiteren Höhepunkt. Seit 1981 schon wehrte sich das Volk entschieden gegen die Adleraugen des Staates, der hinter jede Tür spähen wollte. Es galt, das hohe Gut der Privatheit und Anonymität zu schützen, und so schlossen sich sogar gesellschaftliche Gruppen, die sich sonst spinnefeind waren, zu Großdemonstrationen zusammen.

Heute, genau 20 Jahre später, wird das hohe Gut der Privatheit und Anonymität im Internet hemmungslos und freiwillig verschleudert. Die meisten User kennen Überwachungsstaaten nur aus den Nachrichten. Massenhaft geben ihre fleißigen Bürgerfinger alles von sich preis - wer ihre Freunde sind, welche Hobbys sie pflegen, wie sie politisch positioniert sind. Sie laden Fotos hoch, von sich selbst halbnackt am Strand von Mallorca. Dass solche Fotos, wie auch gehässige Forumsbeiträge, Bekenntnisse zu sexuellen Praktiken und andere private Informationen dort noch nach Jahren zu finden sind, erscheint ihnen unbedenklich.

Kein Wunder, dass sich wenig Unmut regte, als 2005 eine neue EU-Richtlinie beschlossen wurde. Rena Tangens, die auch Mitbegründerin des Negativpreises Big-Brother-Awards ist und den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung vertritt, erzählt: "Nach dieser Regelung werden alle europäischen Staaten verpflichtet, die Telekommunikationsdaten sämtlicher Bürger auf Vorrat zu speichern. Der Protest war verhalten: Zwar gab es eine elektronische Unterschriftenaktion, doch den Menschen war wohl noch nicht klar, welche Konsequenzen diese Speicherung für sie haben kann."

Weder flüchtig noch folgenlos

Rena Tangens ist Mitte 30, schlicht gekleidet. Ein Kernproblem ist ihrer Meinung nach, dass man in der direkten Begegnung sehr wohl spürt, wann man Räume betritt, die anderen gehören, wann man eine Intimsphäre verletzt. "Die Informationen dagegen, die sich aus Telekommunikationsdaten zusammen setzen lassen, und das, was man auf Webseiten wie Xing, My Space, You Tube über sich selbst veröffentlicht, sind virtuell, ohne Sinneseindruck, damit vermeintlich flüchtig und folgenlos."

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat sich gebildet, um mit vereinten Kräften gegen das Überwachungsgesetz, das Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble jetzt auch in Deutschland zu Recht macht, vorzugehen. Alle Beteiligten sehen darin eine gefährliche Beschneidung der bürgerlichen Freiheit. "Uns wird vorgehalten, dass der Schutz der Privatsphäre heute keinen mehr interessiere. Doch es bewegt Leute und macht ihnen Sorgen. Wir wollen das Bewusstsein für diese unsichtbare Gefahr verstärken. Selbst wenn der Staat ohne richterlichen Beschluss an diese Daten auch in Zukunft nicht herankommt, schafft schon ihre reine Existenz ein Klima der Vorsicht im privaten Raum", sagt Rena Tangens. "Dass man sein Verhalten ändert, wenn man befürchten muss, beobachtet zu werden, ist ein schleichender Prozess."

Rund 55 Interessenvertretungen, Datenschutzvereinigungen und Verbände schlossen sich deshalb Anfang 2006 ohne Rechtsform locker unter dem Dach des Arbeitskreises zusammen. "Das Thema hat Strahlkraft, und so konnten wir unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen anziehen, um sie für dieses Ziel zu vereinen." Darunter befinden sich das Netzwerk Neue Medien, die Deutsche Vereinigung für Datenschutz, der Chaos-Computer-Club, der anerkannte Datenschutzsachverständige Werner Hülsmann, die Internationale Liga für Menschenrechte, aber auch drei Ärzte-Verbände, die um das Arztgeheimnis fürchten, sowie die evangelische Telefonseelsorge, Sozialpädagogen und Journalisten-Vereinigungen. Letztere haben Sorge, dass sich in seelischer Not befindliche Menschen, Bedürftige und Informanten nicht mehr so schnell an sie wenden werden, wenn sie Angst haben müssen, dass ihr Anruf, ihre E-Mail ein halbes Jahr lang zurückverfolgt werden kann.

Damit sich im Arbeitskreis ein Verwaltungsapparat gar nicht erst aufbläht, werden die Proteste und die anstehende Verfassungsklage von wenigen Verbänden formlos gesteuert. Es existiert eine umfangreiche, gepflegte Homepage, aber keine eigene Büro-Adresse. Die notwendigen Ausgaben werden ausschließlich durch Spenden finanziert.

Ein wahnsinniger Kraftakt

Im Oktober fand in Berlin eine vom Arbeitskreis organisierte Demonstration statt, die nach dessen Angaben 15000 Teilnehmer hatte. Nach Ansicht von Thilo Reichert, dem Datenschutzbeauftragten in Schleswig-Holstein, war dies die größte Demonstration für Datenschutz seit 1987.

Rena Tangens fährt sich durch ihr kurzes Haar: "Das war ein wahnsinniger Kraftakt, dies alles ehrenamtlich zu stemmen." Mailinglisten wurden erstellt, Bundestagsabgeordnete und Ortsvereine persönlich angesprochen. Rena Tangens findet es faszinierend, wie sich die Aktivitäten in zahlreichen, kleinen Ortsvereinen selbst entfalten und regeln. Am 6. November protestierten sie bundesweit. "Es ist eine chaotische Struktur, aus der heraus kreative Ameisenarbeit betrieben wird. Die Ortsvereine gestalten ihre Info-Stände selbst, manchmal sind die Plakate etwas unbeholfen formuliert, aber das macht ja nichts. Sämtliche relevanten Informationen fließen auf der Website zusammen." Ein allgemeiner News-letter informiert darüber, was in der Woche zuvor an zahlreichen Standorten gelaufen ist. "Das lose Protestbündnis ohne Satzung schafft große Freiheit. Jeder, der beim Arbeitskreis mitmachen will, findet sein Biotop und kann sich seinen Möglichkeiten entsprechend für das übergeordnete Anliegen einsetzen."

Trotz dieses Einsatzes und auch gegen den Widerstand von Jusos, Jungen Liberalen, Grünen und Linken wird das Gesetz zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung, das der EU-Richtlinie folgt, zum 1. Januar 2008 in Kraft treten. Ab dann müssen Telekommunikationsanbieter ein halbes Jahr lang speichern, wer mit wem telefoniert, wer welche Internetseite aufgerufen hat, und wo er sich dabei gerade befand. Justizministerin Brigitte Zypries betont, dass das neue Gesetz lediglich der Überwachung krimineller Handlungen diene, und man mit technischen Entwicklungen Schritt halten müsse, die Terroristen, Extremisten und Wirtschaftsbetrüger ja auch nutzten.

Der Aktionskreis hingegen befürchtet, dass dort, wo Gelegenheiten sind, auch Diebe vorkommen. "Die Daten liegen bei den Providern, den Mobilfunkanbietern, der Telekom. Es wäre leicht möglich, einen Firmenmitarbeiter zu bestechen, um illegal an sie heranzukommen", sagt Rena Tangens. Für diesen Schatz interessiere sich die Wirtschaft, und was, wenn die Regierung eines Tages sagt "die Daten sind doch da, warum sollen wir sie nicht stärker nutzen?", fragt Rena Tangens.

Kein Grundrecht auf totale Sicherheit

Der Arbeitskreis ist der Meinung, dass das Argument einer verbesserten Verbrechensbekämpfung gegen den Schutz der Privatsphäre sorgsam abzuwägen ist. "Es gibt kein Grundrecht auf totale Sicherheit. Es käme dem Selbstmord einer freien Gesellschaft gleich, sämtliche Risiken auszuschließen. Dagegen steht, dass nur das Bewusstsein, bei seinen Aktivitäten unerkannt zu bleiben, dem Einzelnen eine Atmosphäre der geistigen Freiheit verschafft, welche eine Notwendigkeit für Demokratie ist", sagt Rena Tangens.

Allein eine Verfassungsklage kann das Gesetz noch stoppen. Dazu braucht man eigentlich nur einen einzigen Kläger, doch dem Arbeitskreis ist es gelungen, dass inzwischen 7000 Bürger eine Vollmacht unterschrieben haben und sich insgesamt 20000 bereits dafür registriert haben. Rena Tangens räumt der Verfassungsklage sehr gute Chancen ein. "Die Masse ist zwar rechtlich unerheblich, aber Bundesverfassungsrichter können nicht darüber hinwegsehen, wenn sich Protest auf derart breiter Ebene regt."

VON RENA TANGENS ERSCHIEN DAS BUCH SCHWARZBUCH DATENSCHUTZ, AUSGEZEICHNETE DATENKRAKEN DER BIG-BROTHER-AWARDS, RENA TANGENS & PADELUUN (HG.), EDITION NAUTILUS 2006, ISBN 3-89401-494-6, 13,90 €

Alles auf Vorrat

Vorratsdatenspeicherung: Ab 1. Januar 2008 werden Verkehrsdaten von Telefonverbindungen (im Umfang der Einzelverbindungsnachweise auf Telefonrechnungen), Internetverbindungen (IP-Adressen der Inhalte und des Abrufenden) sowie E-Mail-Verkehr und SMS-Nachrichten für ein halbes Jahr "auf Vorrat" gespeichert. Wenngleich hierbei nicht auf den Inhalt der Kommunikation zugegriffen wird, lässt sich so faktisch das gesamte elektronische Kommunikationsverhalten der Bürger analysieren.

Big Brother Awards (BBA): Negativpreise, die jährlich in mehreren Ländern an Behörden, Firmen, Organisationen und Personen vergeben werden. Die Preise werden, so die Stifter, an die verliehen, die in besonderer Weise und nachhaltig die Privatsphäre von Personen beeinträchtigen oder Dritten persönliche Daten zugänglich gemacht haben oder machen.

Für die Unterstützung des Arbeitskreises wurde ein Spendenkonto eingerichtet: Empfänger: Werner Hülsmann Kontonr. 899882851 Postbank Nürnberg, BLZ 76010085 Verwendungszweck: "AK Vorratsdatenspeicherung" Für internationale Überweisungen: IBAN: DE26760100850899882851, BIC: PBNKDEFF

www.vorratsdatenspeicherung.de