Ausgabe 11/2007
Verzicht kommt nicht in die Tüte
Von Claudia von Zglinicki |Verzicht kommt nicht in die Tüte
Bundesweiter Arbeitskampf im Einzelhandel - und genau im Weihnachts-geschäft. ver.di und die Beschäftigten fordern 6,5 Prozent mehr Lohn und werden auf die Zuschläge nicht verzichten
Von Claudia von Zglinicki
Mittendrin: Jacqueline Braun und ihre Tochter Julia
Mindestens 500 Leute in weißen ver.di-Überziehern drängen sich im Innenhof des ver.di-Hauses in Berlin, vielleicht noch mehr. Es ist Freitag, der 8. November. "Und Berlin empfängt uns mit Sonne! Kein Regen wie in Lübbenau, wo wir früh um vier losgefahren sind", ruft einer ins Mikrophon. Rauschender Beifall. Als die Streikenden aus Berliner Real- und anderen Märkten und von der Kauflandlogistik in Lübbenau schließlich zur Kundgebung auf dem Alexanderplatz ziehen, füllen sie die Brücke über der Spree, so viele sind es. Und das ist erst der Anfang dieser dritten Streikwelle in Berlin und Brandenburg.
Eine besondere Branche
An jedem Tag kamen mehr Menschen, bis es am 13. November schließlich 4000 waren, aus vielen Bundesländern, die sich in der Berliner Philharmonie zum Protest bei Samba-Rhythmen trafen. Ein besonderer Ort für eine Streikversammlung. Aber es ist auch ein besonderer Arbeitskampf.
Mehr als 1000 Streiks und andere Aktionen hat es bis Mitte November in der Republik gegeben. "Das hinterlässt Spuren", da ist Ulrich Dalibor, Leiter der ver.di-Bundesfachgruppe Einzelhandel, sicher. Wenn auch in 16 Bundesländern 16 Tarifrunden anstehen - im Grunde wollen die Verkäuferinnen, Lageristen und anderen Beschäftigten in den Warenhäusern und Läden alle dasselbe: Zwischen 4,5 und 6,5 Prozent mehr Lohn und weiter wie bisher die Zuschläge für Spät- und Wochenenddienste. Die Unternehmen boten in Nordrhein-Westfalen bei den vorerst letzten Tarifverhandlungen Ende August ganze 1,7 Prozent mehr an und wollen gleichzeitig die Zuschläge streichen. Was bedeutet, dass Verkäuferinnen mit Vollzeitstellen in NRW im Schnitt 170 Euro pro Monat weniger bekämen. Das hat auch Menschen zum Streiken gebracht, die es bisher nie gewagt hätten. Gerade in dieser Branche, die auch deshalb etwas Besonderes ist, weil oft nur 15 oder 20 Leute in einer Filiale arbeiten. Da kommt es vor, dass der Chef einzelne Verkäuferinnen an der Bushaltestelle abfängt und von der "persönlichen Enttäuschung" redet, "wenn gerade Sie streiken". Dann ist es schwer, die Angst zu besiegen.
Jacqueline Braun weiß, wie das läuft. Sie arbeitet bei Real in Berlin-Treptow und ist Betriebsrätin. Manche ihrer Kolleginnen wollten am 8. November mit ihr zum Alex ziehen, waren dann aber doch nicht dabei. "Ich verstehe das, aber es ist schrecklich, wenn sie mir in den nächsten Wochen nicht mehr in die Augen sehen können", sagt Jacqueline. Von ihren 130 Kollegen streikten Mitte November 45. Die Berliner fordern auch, dass Löhne und Arbeitszeit in Ost und West angeglichen werden, aber nicht abgesenkt auf Ostniveau.
"Mit weniger Geld würden viele nicht mehr auskommen", sagt Jacqueline. Sie arbeitet 30 Stunden pro Woche, Teilzeit ist fast schon die Regel im Einzelhandel. "Wenn wir um 6,5 Prozent mehr kämpfen, sind das bei mir acht bis zehn Euro im Monat. Aber ich bin auch für die anderen hier, nicht nur für mich. Und jede Einzelne, die mit streikt, bestärkt mich als Betriebsrätin. Wenn so viele dabei sind, kriege ich richtig Gänsehaut."
Einfacher war es für viele, weil ver.di zum ersten Mal per Post zum Streik eingeladen hat. Dann gingen sie früh nicht mehr zur Arbeit, sondern trafen sofort auf Gleichgesinnte, das macht Mut. Eine erfolgreiche Taktik, bestätigt Sabine Zimmer von ver.di Berlin. "Dass das so gut ankommt, hätte ich nicht zu hoffen gewagt. Aber viele warteten dann sogar schon auf unseren nächsten Brief."
Gegen die Servicewüste
Nach den ersten Streiktagen im September fragten manche Kunden Jacqueline, was denn gewesen sei - so lange Schlangen an den Kassen, so viel Hektik. Viele haben den Streik akzeptiert. Anderen ist gar nichts aufgefallen. Trotzdem meint Sabine Zimmer nicht, dass die Proteste zu wenig sichtbar sind. Gerade an den verkaufsstarken Tagen Ende der Woche machen sie sich bemerkbar "und tun den Unternehmen weh".
Viele Arbeitgeber glauben, die Streiks mit Aushilfen und Leiharbeitnehmern unterlaufen zu können. "Aber das geht so nicht", meint Ulrich Dalibor, "da bleiben Beratung und Qualität auf der Strecke. Servicewüste Deutschland - so wird sie produziert. Doch manche denken vielleicht langsam um: statt ,Geiz ist geil' ,Wir lieben Lebensmittel'."
Frohe Weihnachten
Und wie geht es weiter? Bei ver.di heißt es: "Wir hoffen, dass bei den Arbeitgebern Vernunft einzieht." Weihnachten ist in wenigen Wochen. "Das", sagt Jacqueline, "wird wirken: Streik im Weihnachtsgeschäft. Jetzt ist es soweit."