Gewerkschaften brauchen Mitglieder, um Arbeitnehmerinteressen durchsetzen zu können. Professor Michael Vester hat in einer Studie für die IG Metall die so genannten neuen Arbeitnehmergruppen erforscht. Wie kann man sie gezielt ansprechen, und wie stehen sie zu Gewerkschaften? ver.di publik sprach mit dem Soziologen aus Hannover.

ver.di PUBLIK | Professor Vester, kann auch ver.di von der neuen Studie lernen?

VESTER | Sicher. Nicht die Distanz zu den politischen Positionen der Gewerkschaften ist der Hauptgrund, sich nicht zu organisieren. Vielmehr sind vor allem gewohnheitsmäßige Faktoren die Ursache. Wie Menschen denken, hängt wesentlich von den Kultur- und Lebensweisen des Milieus ab, dem sie angehören. Bei unterschiedlichen Berufsgruppen kommen durch berufliche Tätigkeit Erfahrungen und Werte als prägende Elemente hinzu. So bleiben die neuen Arbeitnehmer/innen oft den Gewerkschaften fern, weil sie aus ihrer Sicht zu wenig emanzipatorisch agieren.

ver.di PUBLIK | Was heißt das konkret?

VESTER | Nicht gewerkschaftliche Programmatik, sondern zu starr und autoritär wahrgenommene Entscheidungs- und Mitwirkungsstrukturen werden kritisiert. Diese Ergebnisse muss eine Gewerkschaft ernst nehmen.

ver.di PUBLIK | Und wie steht's mit neuen Unternehmenskulturen?

VESTER | Knallharte Shareholder Value-Politik und Orientierung an Renditesteigerungen haben enorme Auswirkungen auf die Arbeitssituation - und damit auch auf höher qualifizierte Beschäftigtengruppen und ihr Selbstverständnis. In den Arbeitsfeldern von Hochqualifizierten kommt es vielfach zu einer Aufwertung betriebswirtschaftlicher Vorgaben und einer deutlichen Abwertung des Fachwissens. Gewerkschaften stehen diesen Gruppen dann kritisch gegenüber, weil sie ihnen vor diesem Hintergrund nicht mehr zutrauen, wie bisher ihre Interessen durchsetzen zu können.

Im Umkehrschluss heißt das für Gewerkschaften: Gelingt es in diesem Konflikt über betriebliche Interventionsmöglichkeiten kompetent Position zu beziehen und problemgerechte Antworten zu entwickeln, dann ist ein Zugang zu gewerkschaftsfernen Beschäftigtengruppen möglich.

ver.di PUBLIK | Was können Gewerkschaften verbessern?

VESTER | Eine spezifische Ansprache und gesellschaftspolitische Aktivitäten etwa für eine zeitgemäße Sozial- und Bildungspolitik sind wichtig sowie eine betriebsnahe Tarifpolitik, die auch Leistungsbedingungen und Qualifizierung regelt. Arbeitnehmer, die direkt an Entscheidungen mitwirken, entfalten eine höhere Kraft als "Stellvertreter-Instanzen". In diesem Sinn bieten neue tarifpolitische Konzepte auch die Gelegenheit, die neuen Arbeitnehmer/innen dauerhaft zu gewinnen und zu beteiligen.

ver.di PUBLIK | Ihr Fazit?

VESTER | Es ist keineswegs ausgeschlossen, die wachsenden neuen Arbeitnehmergruppen - Hochqualifizierte wie Prekäre - in gewerkschaftliche Aktivitäten einzubinden. Das mit sinnvollen Konzepten anzugehen, ist ein lohnendes Ziel. Obwohl der öffentliche Dienst mit seinem Anteil an Beamten, die nicht streiken dürfen, nach anderen Regeln funktioniert. Die Studie hat gezeigt: Der eher schwache Organisationsgrad der neuen Arbeitnehmer/innen ist Ausdruck eines veränderten Interessenbewusstseins.