Hier: Kameras überwachen den Verkaufsraum des Discounters

Achim Neumann

Detektive verfolgen Betriebsräte

In Lidl-Märkten wurde Personal überwacht. Ein Gespräch mit Achim Neumann, ver.di-Sekretär für den Einzelhandel in Berlin-Brandenburg

ver.di PUBLIK | In mehr als 200 Lidl-Filialen in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sind die Beschäftigten mit Videokameras bespitzelt worden, im Verkaufsbereich, in den Pausenräumen, auf den Toiletten. In den letzten Wochen wurde viel darüber berichtet. Ist die Erkenntnis neu?

Achim Neumann | Dass bei Lidl Detekteien mit der Bespitzelung beauftragt werden, die Kameras einsetzen, wussten wir seit vier Jahren. Im Schwarzbuch Lidl von Andreas Hamann ist das auch veröffentlicht worden. Der Konzern entschuldigte sich damals und erklärte, das sei ein Einzelfall. Grundsätzlich gebe es das nicht. Heute ist dokumentiert: Das war gelogen.

ver.di PUBLIK | Geht es nur um die vier genannten Bundesländer?

Neumann | In denen ist es belegt. Aber ich vermute bundesweite Überwachungen. Es gibt keine Logik, nach der nur diese Gebiete betroffen sein sollten.

ver.di PUBLIK | Wie hat Lidl jetzt reagiert?

Neumann | Hilflos. Der Schaden soll begrenzt werden, denn es steht mehr auf dem Spiel als der Ruf. Also druckte das Unternehmen 48000 Flugblätter mit Entschuldigungen für die Beschäftigten und schaltete Anzeigen in Tageszeitungen für alle...

ver.di PUBLIK | ...die die Situation eher schlimmer machen.

Neumann | Was mich besonders aufregt, ist die Tatsache, dass die Seiten ohnehin für Lidl-Annoncen finanziert waren. Auf der oberen Hälfte wird nun angegriffen: Wir sind fair. Wenn ihr nicht klauen würdet, bräuchten wir solchen Maßnahmen nicht. Sie verdächtigen die Beschäftigten generell. Dass sie die halbe Seite dafür nehmen, zeigt, dass Lidl nicht nur einen Imageverlust hat, sondern auch einen Verlust, der sich in Euro und Cent niederschlägt.

ver.di PUBLIK | Dass Supermärkte sich vor Diebstahl schützen wollen, ist verständlich. Aber was ist erlaubt?

Neumann | Kameras in Verkaufsräumen sind unter Umständen legal und gängige Praxis. Verdeckte Ermittlungen sind verboten. Bei Lidl wurde zudem nicht darüber informiert, dass das Verhalten ausgeforscht wurde. Ein doppelter Rechtsbruch des Datenschutzgesetzes und des Grundgesetzes. Die heimliche Überwachung und das Schnüffeln im Privaten, bis zum Besuch der Toilette. Das ist Verfassungsbruch, denn es verletzt die Würde des Menschen.

ver.di PUBLIK | Welche Rolle spielt der Betriebsrat beim Einsatz von Kameras?

Neumann | Beim Einsatz technischer Geräte hat er Mitbestimmungsrecht. Er regelt in Betriebsvereinbarungen, ob überwacht wird, wie lange, ob Daten gespeichert und ausgewertet werden. Er regelt vor allem, dass Leistung und Verhalten nicht kontrolliert werden.

ver.di PUBLIK | Wenn es einen Betriebsrat gibt. Bei Lidl arbeiten in 2900 Filialen in Deutschland bisher sechs. Was unternimmt ver.di jetzt?

Neumann | Wir unterstützen Kolleg/innen, die klagen wollen. Aber wir tun noch mehr: Informieren und weiter aufklären, dass der einzige Schutz gegen das Bespitzelung und immer schlechtere Arbeitsbedingungen ein Betriebsrat ist. Wir fordern seit Jahren ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. Denn das geltende Datenschutzgesetz bietet für die Sphäre der Arbeit leider nur geringen Schutz. Der Technikeinsatz an den Kassen schreitet rasant fort, dort werden immer mehr Daten über die Beschäftigten gesammelt, so dass wir schon von der "gläsernen Kassiererin" sprechen können.

ver.di PUBLIK | Und vom "gläsernen Kunden". Verbraucherschützer empfehlen deshalb, in solchen Läden nicht mit EC-Karte zu bezahlen.

Neumann | Kameras, die direkt über der Kasse hängen, erfassen die Eingabe der PIN-Nummern der Kunden mit. So wird es möglich, das Einkaufsprofil des Konsumenten aufzustellen, ohne dass er zugestimmt hat oder es überhaupt weiß.

ver.di PUBLIK | Fordert ver.di zum Boykott auf?

Neumann | Wir geben niemandem vor, wo er oder sie einzukaufen hat. Der Kunde ist König. Aber ein Boykott, auch befristet, täte dem Unternehmen weh und könnte es vielleicht auch dazu bringen, den Vertrag "Für faire Betriebsratswahlen" zu unterschreiben, den ver.di der Geschäftsführung vor Jahren vorgelegt hat. In erster Linie wollen wir aber gemeinsam mit den Beschäftigten mehr Betriebsräte aufbauen.

ver.di PUBLIK | Von 6 auf 60?

Neumann | Die Größenordnung halte ich für realistisch. Wann, wenn nicht jetzt? Wir kümmern uns um die Lidl-Kampagne, mit mehr Leuten und der Organizing-Methode. Viele Menschen sind ver.di gegenüber offener geworden; sie rufen an, weil sie uns vertrauen. Ich rechne nicht mit Betriebsratsgründungen in der nächsten Woche, aber der Prozess ist im Gang.

Interview: Claudia von Zglinicki