Der Europäische Gerichtshof stellt die unternehmerische Freiheit über die Grundrechte. ver.di fordert einen sozialen Gesellschaftsvertrag

Ein soziales und demokratisches Europa, ein Europa der Völker - das war die Vision. Ein Europa der grenzenlosen wirtschaftlichen Freiheiten - das ist die Realität. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner jüngsten Rechtsprechung unternehmerische und wirtschaftliche Freiheiten über elementare Grundrechte wie die Menschenwürde und die nationalen Schutz- und Arbeitsrechte gestellt. Europas Gewerkschaften werten das als fundamentalen Angriff auf verbriefte Grundrechte und soziale Schutzstandards. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske betont: "Das hat eine neue Dimension, die für uns Gewerkschaften grundlegende Fragen aufwirft. Das ist nicht das Europa, das wir wollen. Wir sagen Nein zu einem Europa der sozialen Kälte. Wir brauchen eine Alternative: ein Europa mit einem sozialen Gesellschaftsvertrag."

Anfang April hatte der EuGH entschieden, das niedersächsische Tariftreuegesetz verstoße gegen EU-Recht, nämlich die europäische Dienstleistungsfreiheit. Daher dürfe das Land die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht an die Bedingung knüpfen, dass die Auftragnehmer die ortsüblichen Tariflöhne zahlen. Verlangt werden könne lediglich die Beachtung gesetzlicher Mindestlöhne oder allgemeinverbindlich erklärter Tarifverträge. "Das", sagt der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, "ist praktisch eine Einladung zum Lohndumping durch den Einsatz entsandter Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - und zwar überall dort, wo es keine gesetzlichen Mindestlöhne oder allgemeinverbindliche Tarifverträge gibt." Durch diese Rechtsprechung, so Sommer, gefährde der Gerichtshof den sozialen Frieden in Europa.

Die Menschenwürde ist wichtiger als ein freier Markt

Bereits im Dezember vergangenen Jahres hatte der EuGH nationales Streikrecht zwar grundsätzlich bestätigt, jedoch im gleichen Zuge für unvereinbar mit der EU-Entsenderichtlinie und der europäischen Dienstleistungsfreiheit erklärt. Der Fall Laval: Die lettische Firma war beauftragt, eine Schule in einer schwedischen Gemeinde zu renovieren, weigerte sich jedoch, den schwedischen Flächentarifvertrag einzuhalten. Daraufhin blockierten schwedische Gewerkschafter die Baustelle. Es kam zum Rechtsstreit bis vor den Europäischen Gerichtshof. Der entschied, die Blockade sei unvereinbar mit der EU-Entsenderichtlinie und der Dienstleistungsfreiheit.

Der Fall Viking: Weil die finnische Reederei eines ihrer Fährschiffe in Estland umflaggen wollte, um schlechter bezahlte estnische Seeleute beschäftigen zu können, hatte die finnische Seeleute-Gewerkschaft (FSU) einen Streik angedroht und einen Tarifvertrag gefordert. Unterstützt wurde die FSU von der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF). Die Viking Line beantragte eine Unterlassungsverfügung. Auch in diesem Fall entschied der EuGH, dass das EU-Recht zur Niederlassungsfreiheit höher zu bewerten sei als das Arbeitskampfrecht. Zudem erklärten die Richter, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Menschenwürde mit dem Schutz des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit in Einklang zu bringen seien. Ihre Ausübung müsse dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.

"Das", so der ver.di-Vorsitzende Bsirske, "verstößt aus unserer Sicht klar gegen den Grundgesetztext. Das akzeptieren wir nicht." Gemeinsam mit den anderen europäischen Gewerkschaften wird ver.di sich einem solchen Europa verweigern.

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