Anrufe sind wie Wundertüten... man weiß nie, was kommt

Die Arbeit im Call Center ist hart. Ungeduldige Kunden, engmaschige Kontrollen, belastende Arbeitszeiten, wenig Lohn. Über die Hoffnung unter dem Kopfhörer, dass sich die Arbeitsbedingungen bessern mögen. Zu Besuch in zwei Call Centern: in Itzehoe und - weit weg - in Costa Rica

von Cornelia Gerlach (Text) und Cordula Kropke (Fotos)

Es ist still. Verdächtig still, wenn man bedenkt, dass dies hier ein Call Center sein soll. Dabei ist das Großraumbüro voll mit Menschen. Überall sitzen sie wie auf kleinen Inseln aus Schreibtischen, die sich um eine Säule gruppieren. Ihre Augen sind auf Bildschirme fixiert. Ihre Finger tanzen auf dem Keyboard. Nur ab und an hört man eine freundliche Stimme, die sagt: "Energieversorger XY, Sie sprechen mit Ellen Struve, was kann ich für Sie tun?"

Das Call Center liegt in Itzehoe, eine Autostunde von Hamburg entfernt. Es gehört zur D+S europe AG. Das Unternehmen ist die Nummer drei in der Branche, nach arvato direct und Walter services. D+S europe beschäftigt 6000 Menschen und pflegt 40 Millionen Kundenkontakte im Jahr, allein hier in Itzehoe arbeiten etwa 400 Leute.

Call Center-Agentin Ellen Struve hat Anwaltsgehilfin gelernt

Im Kopfhörer von Ellen Struve hat sich gerade ein Mann gemeldet. Breites Norddeutsch. "Wir haben einen neuen Mieter", sagt er. Ganz angenehme Stimme, denkt Ellen Struve, "die Vertragskonto-Nummer bitte." Währenddessen rudert sie mit der Maus, klickt, ein Formular öffnet sich auf dem Bildschirm, sie tippt die Ziffern ein. "Und der Zählerstand?" "Ach du Schande", sagt der Mann. Sie hört ihn schlucken. "Da muss ich eben in den Keller." Schritte hallen durch den Kopfhörer, er nimmt Ellen Struve einfach mit. Die Stufen knarzen. Die Stimme perlt von kahlen Wänden. "Wie lange dauert das mit der Rechnung?" So freundlich, dass man ihr richtig gerne zuhört, gibt Ellen Struve die Antwort. "Na, dann schönen Tag noch", grüßt der Mann sie zurück. Ein Klick in der Leitung. Der kleine Hörfilm endet. Am anderen Ende des Raumes springt in diesem Moment eine Bildschirm-Anzeige von eins auf null: Es ist kein Gespräch mehr in der Leitung. Bettina Parr, die Supervisorin mit dem Tattoo im Ausschnitt, sieht das. Sie steht hinter ihrem Schreibtisch wie eine Dirigentin hinterm Pult und steuert die Arbeitsprozesse. Ihr Blick wandert durch den Raum, zu den Kolleginnen und Kollegen, die an den Bildschirmen kleben. Auf ihrem eigenen Monitor kann sie in Echtzeit verfolgen, wer gerade telefoniert und ob sich Anrufer in der Warteschleife drängeln. Aber gerade drängelt sich niemand.

"Heute ist ein ungewöhnlicher Tag", sagt sie, "wir sind im Routing unseres Auftraggebers ganz unten, damit wir Schriftbearbeitung machen können." Im Klartext heißt das: Heute nehmen die Angestellten des Energieversorgers die Kundenanrufe selber entgegen. Dafür beantworten die Call-Center-Leute die Post: Beschwerdebriefe, Anfragen, Kündigungen von all jenen, die lieber schriftlich als mündlich ihr Anliegen vortragen. Die Ruhe im Raum beschreibt einen Wandel in der Branche: Vom reinen Call Center zum Rund-Um-Dienstleistungsbetrieb, der einen großen Teil der Sachbearbeitung erledigt.

Costa Rica: ein Traumjob

Am anderen Ende der Welt, in Costa Rica, ist eine junge Frau gerade dabei, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einem Call Center gewerkschaftlich zu organisieren. Das ist Gabriela Bonilla. Sie spricht Kalifornisch. Mit rauer Stimme und ohne Akzent. Bevor sie zur Gewerkschaft kam, hat sie im Call Center gejobbt. Sie nahm Sportwetten entgegen, sie kann sehr schön locken. "Die Anrufer wussten nicht, dass ich in Costa Rica sitze und nicht gleich nebenan in Kalifornien."

Call Center: Das ist für viele in Costa Rica ein Traumjob. Dort kann, wer gut Englisch spricht, viermal so viel wie den Mindestlohn verdienen. Ohne ins Ausland zu müssen. Amerikanische Firmen haben ihre Betriebe ausgelagert, schulen Leute, bis der Klang ihrer Stimme zu dem der Kundschaft passt, und versuchen sie über gute Löhne zu halten. "Viele von uns haben über den Job das Studieren vergessen", erzählt Gabriela, "die kommen davon nicht mehr los." Sie selbst hat Anthropologie studiert und wollte eigentlich nur etwas dazu verdienen. Und merkte: Die Versuchung ist groß, der Mindestlohn in Costa Rica beträgt 200 Dollar, im Call Center kann man 800 oder sogar 1000 verdienen. Mehr als ein Arzt. "Die Leute gründen Familien, nehmen Kredite auf. Sie gewöhnen sich an das Geld."

Itzehoe: wenig Lohn

Weiterleitung ist auch in Itzehoe das Zauberwort. Es ist noch gar nicht lange her, da rief, wer Fragen zu seinem Stromverbrauch hatte, bei den Stadtwerken an, landete auch dort, wurde mit einer Sachbearbeiterin verbunden und trug der sein Anliegen vor. Die Frau war Angestellte im öffentlichen Dienst und hatte über Jahrzehnte von den Gewerkschaften erkämpfte Rechte. Dann wurden die Stadtwerke privatisiert, und die neuen Unternehmen leiteten die Anrufe weiter. Die Frau am Ende der Leitung ist jetzt bei einem Call-Center-Betreiber angestellt. Sie verdient bei dem zweitgrößten Unternehmen der Branche nur 5,85 Euro bis 6,18 Euro die Stunde, bei D+S europe immerhin 7,59 Euro. Mal 173 Stunden im Monat macht 1313,07 Euro brutto. Auch wer lange dabei ist, bekommt nicht mehr, es sei denn, für ein bestimmtes Projekt sind bei guter Leistung ein paar Euro extra vereinbart. Zum Vergleich: Der Tarifvertrag Öffentliche Dienste schreibt für eine Sachbearbeiterin der Entgeltgruppe 5, also der untersten in diesem Bereich, bei drei Jahren Berufserfahrung 2082,62 Euro vor.

Bettina Parr hatte, ähnlich wie Gabriela Bonilla aus Costa Rica, ursprünglich andere Pläne. Sie hat Völkerkunde studiert und schrieb ihre Doktorarbeit, als ihre Stelle an der Universität auslief. Sie brauchte Geld. Bewarb sich. Wurde Call-Center-Agentin. Und blieb, machte innerhalb des Unternehmens Karriere. Zehn Jahre ist sie nun schon dabei. Manchmal trifft sie Freundinnen, die immer noch forschen. "Die hangeln sich von einem Zeitvertrag zum nächsten", sagt sie. "Da schätze ich mein regelmäßiges Gehalt." Das allerdings ist niedrig. Eine halbe Stelle an der Uni hat ihr so viel gebracht wie eine ganze hier.

Bettina Parr teilt ihr Team ein. Je nach Bedarf. Ein Computer-Programm, das "real time controlling", hilft ihr. Es gilt, immer im richtigen Moment die richtige Anzahl von Leuten an der richtigen Stelle zu haben. Morgens von 9 bis 11 Uhr und nachmittags von 14 bis 16 Uhr ist normalerweise Stoßzeit beim Telefonieren, "der Peak im Callvolumen ist erreicht". Ein Vorhersage-Programm sagt, auf welcher der acht Hotlines sich die Anrufer wann drängeln werden, ermittelt aus dem Aufkommen der vergangenen Wochen. Sind gerade die Rechnungen raus? Wird der Tarif umgestellt? War das Unternehmen in der Presse? Drei- bis viertausend Anrufe sind an einem normalen Tag zu koordinieren, als die Mehrwertsteuer erhöht wurde, waren es an einem Tag 43000.

Supervisorin Bettina Parr wollte als Völkerkundlerin arbeiten

Am anderen Ende des Raumes, neben dem üppigen Plastikfarn, klickt es bei Ellen Struve im Hörer. Kundschaft. "Sie haben mir das Wasser abgestellt", poltert eine Frau mit rauchiger Stimme. "Dabei hat der Typ vom Sozialamt das Geld längst überwiesen!" Im Hintergrund bellen Hunde. "Ich kümmere mich drum, dass jemand sie zurückruft", sagt Ellen Struve ruhig. "Aber schleunigst! Wenn bis 18 Uhr das Wasser nicht wieder läuft, sonst" - die Frau ahmt einen Anwalt aus einer amerikanischen TV-Serie nach - "sehe ich mich gezwungen, andere Schritte zu gehen." Die Stimme eiert, als wäre die Anruferin schon ziemlich betrunken. Ellen Struve schüttelt den Kopf. Aber das sieht die Frau nicht. Sie hört nur, wie Ellen Struve freundlich und beruhigend noch einmal verspricht, dass sich jemand melde.

Anrufe sind wie Wundertüten. Man weiß nie, was kommt. Bis zu den ersten Worten. "An der Stimmlage spür ich, was kommt", erzählt die Call-Center-Agentin. "Oha, das wird heftig, denke ich dann. Und sag mir schnell noch, dass die nicht mich meint. Und dass ich ruhig und freundlich bleiben muss. In der Regel wird der Kunde dann auch schnell leiser." Neulich war einer dran, dem hatte man das Gas abgedreht. Der hat mit Mord gedroht. "Die Kehle durchschneiden wollte der jedem, der bei ihm auf den Hof kommt." Egal, wer dran ist: Es gilt, die Sache schnell abzuwickeln. Denn der Rechner erfasst ihre Zeiten. Oben im Bildschirm läuft eine Uhr: Gespräch. Nachbearbeitung. Fertig.

Betriebsratsvorsitzende Kristina Krüger hofft, dass sich eines Tages die Spreu der Call Center vom Weizen trennt - die Dumpinglohn-Zahler von den Qualitätsunternehmen mit anständigen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen

Ellen Struve war 41, als ihr Mann vor zweieinhalb Jahren arbeitslos wurde. Sie dachte: "Ich hab keine Wahl", und bewarb sich. Sie hat Anwaltsgehilfin gelernt, beim Landgericht gearbeitet, noch so richtig mit Akten und ohne Computer. Dann die Kinder großgezogen. Nebenbei war sie zuletzt zwölf Stunden in der Woche bei der Post. Und nun dies. Ihre Jungs waren entsetzt, "die dachten bei Call Center an wer-weiß-was." Sie stellte das richtig. "Du verkaufst jetzt statt Briefmarken also Strom?", brachte der Jüngste ihre Rede auf den Punkt. Ja. Sechs Stunden am Tag. Die Angst, zu versagen saß anfangs immer im Nacken. Aber heute sagt sie: "Der Job macht mir Spaß, ich wüsste nicht, warum ich aufhören sollte."

Weil er schlecht bezahlt ist? "Das stimmt schon", räumt Ellen Struve leise ein. Irgendwann, hofft sie, wird sich das ändern. Dann werden sie alle hier mehr verdienen, "weil wir ja auch immer mehr Aufgaben übernehmen."

Costa Rica: kein Betriebsrat

Für Gabriela Bonilla in Costa Rica ist Geld nicht das Thema. Das ist in Ordnung. Sie will mehr. Einen Betriebsrat! Vier Jahre hat sie darum gekämpft. "Die Firma wollte nicht, dass einer mit am Tisch sitzt", sagt sie. Auch die Belegschaft zog nicht mit. Wenn es Probleme gab, ja. Wenn der Weihnachtsurlaub gestrichen werden sollte. Oder die Löhne nicht pünktlich kamen. Aber sonst? Dabei gab es lohnende Themen: Sozialversicherung. Kinderkrippen. "Aber solange der Dollar rollt, ist für die meisten alles okay."

Gabriela nimmt das den Leuten nicht übel. "Wer arbeitslos ist, will erstmal Arbeit", sagt sie. Und arbeitslos sind in Costa Rica viele. "Die Gewerkschaften sind gefordert, den Leuten zu sagen, dass sie nicht nur das Recht auf einen Job haben, sondern auch auf gute Konditionen." Aber sogar in den Maqilas - Produktionsstätten mit einem hohen Zaun drumherum, in denen internationale Firmen fertigen lassen, und wo Frauen manchmal 16 Stunden am Tag schuften - sind die Leute noch froh, dass sie überhaupt Arbeit haben. "Wir können ihnen keinen Vorwurf machen", sagt Gabriela. "Sondern wir müssen neue Wege suchen."

Itzehoe: wenige ver.dianer

Kristina Krüger - lange blonde Haare, flotter Nadelstreifen-Anzug - ist Vorsitzende des Betriebsrats in Itzehoe. Sie kam vor bald zehn Jahren als Praktikantin. Und blieb. 2002 kam sie zur Gewerkschaft. "Nur etwa zehn Prozent der Kolleginnen und Kollegen sind organisiert", sagt sie, "die meisten sind jung - wenn sie aus der Schule noch wissen, was Gewerkschaften sind, dann ist das viel." Und sie weiß: "Zehn bis zwölf Euro Gewerkschaftsbeitrag tun richtig weh, wenn das Geld nur knapp für das tägliche Brot reicht."

Vom klassischen Weg - Arbeitskampf, Tarifvertrag - ist man hier denn auch weit entfernt. Der Betriebsrat geht kleine Schritte. Ein Beispiel: Fast alle Verträge hier sind befristet, 18 Monate, was danach kommt, weiß man nie. Jetzt sollen die Mitarbeiter nach 15 Monaten erfahren, ob sie weiter beschäftigt werden, und bekommen dann unbefristete Verträge.

Der Spielraum sei klein, sagt Kristina Krüger, der Druck in der Branche sei gewaltig. Aber auch sie spricht von Hoffnung. "Irgendwann", sagt sie, "muss sich die Spreu vom Weizen trennen": die Klitschen von den Qualitätsunternehmen; die Dumpinglohn-Zahler von den Unternehmen, die ihre Mitarbeiter ausbilden und dann auch halten wollen. Irgendwann, sagt Kristina Krüger, müssen die Kunden erkennen, welch großen Nutzen sie davon haben, "und dann auch mehr zahlen, damit wir mehr an die Mitarbeiter weitergeben können."

Ein Stockwerk höher schiebt Ellen Struve den Kopfhörer von den Ohren. Feierabend. Sie trägt ihn in ihr Schließfach, geht zu ihrem Auto. "Manchmal", erzählt sie, "nehme ich mir morgens etwas ganz fest vor" - die Jungs anzurufen, in der Pause, versteht sich, oder einzukaufen. Dann fängt die Arbeit an. Die kennt nur das Hier und Jetzt, das Reagieren auf jeden einzelnen Kunden. "Und abends, wenn ich heimfahre und die Telefonstimmen langsam verschwinden, dann denke ich: Oje. Da war doch noch was. Mist, das habe ich komplett vergessen."

Kampagne Call Center

Mit einer Kampagne zu "Sozialen Mindeststandards in Call Centern" wollen der ver.di-Fachbereich Besondere Dienstleistungen und das TBS-Netz, die arbeitsorientierten und gewerkschaftsnahen Beratungseinrichtungen des DGB, der Abwärtsspirale in der Branche begegnen.

Zu den Mindeststandards gehören insbesondere:

  • Auch wer in Call Centern beschäftigt ist, muss von dem, was er oder sie verdient, leben können.
  • Die Arbeitsschutz-Bestimmungen sind einzuhalten und das Arbeitsumfeld muss gesundheitsgerecht sein.
  • Arbeitszeit und Schichtpläne orientieren sich an den Interessen des Betriebs und an denen der Beschäftigten.
  • Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird respektiert. Übermäßige Kontrolle ist zu vermeiden.
  • Ein Branchentarifvertrag oder Haustarifverträge regeln Monatslohn, Sonderzahlungen und Zuschläge.

Zurzeit finden an vielen Standorten Call-Center-Tage, Stammtische, Flugblattaktionen vor Betrieben und Schulungen für Betriebsräte statt. Dazu Petra Gerstenkorn, zuständiges ver.di-Bundesvorstandsmitglied: "Wir wenden uns an Beschäftigte in unabhängigen Call- und Service-Centern, geben ihnen Tipps und helfen, ihre eigene Position zu verbessern."

Mehr zum Thema unter http://besondere-dienste.verdi.de/callcenter/mindeststandards