Ausgabe 11/2008
Die Richtung ändern
Von Frank Bsirske |Frank Bsirske ist der Vorsitzende von ver.di
Die Richtung ändern
Nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte, für dessen Folgen wieder einmal alle gerade stehen sollen, kann es kein "Weiter so" geben. Wir müssen umsteuern zu einer Politik, in der Gerechtigkeit und Solidarität nicht als verstaubte Sozialromantik abgetan werden, sondern die Grundlage unserer Gesellschaft sind
Kein Geld für Krankenhäuser. Kein Geld für Schulen. Kein Geld für Schwimmbäder und keins für öffentliche Bibliotheken. Da wird gespart, regelrecht kaputt gespart. Angeblich, damit nicht die Schulden den Enkeln und Urenkeln die Luft zum Atmen abschnüren. Und wenn die Gewerkschaft ver.di eine angemessene Entlohnung für die Menschen fordert, die etwa als Krankenschwestern und Pfleger in Altenheimen, als Busfahrer/innen im öffentlichen Nahverkehr oder als Erzieher/innen in Kindertagesstätten Verantwortung tragen, dann heißt es: "Maß halten! Die öffentlichen Kassen sind leer."
Und plötzlich ist alles anders. Da geht es nicht mehr um die Enkel und Urenkel: Wie aus einem Füllhorn schüttet der Staat Milliarden über jene aus, die jedes Maß verloren haben. In nur fünf Tagen schnürte die Bundesregierung ein Hilfspaket im Wert von 480 Milliarden Euro und drängt es den in Not geratenen Banken auf. Mit 400 Milliarden bürgt der Staat für Kredite, 80 Milliarden stellt er den Finanzinstituten sofort als frisches Kapital bereit.
Noch ist nicht abzusehen, ob diese staatliche Stütze reichen wird. Weil niemand weiß, wie viele Spekulationsblasen noch platzen werden und welche Bank wie tief in die weltweite Zockerei mit faulen Kreditpaketen verstrickt ist. Auch die öffentlichen Landesbanken haben mitgespielt in dem globalen Finanzkasino, und selbst die staatliche Förderbank KfW hat knapp 140 Millionen Euro im Kredit- und Wertpapiergeschäft mit Banken auf Island versenkt. So viel war zumindest bis Redaktionsschluss bekannt.
Wir erleben eine weltweite Finanz- und mittlerweile Wirtschaftskrise, wie es sie seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht gegeben hat. Wie es dazu kommen konnte? Warum keiner das Desaster vorhergesehen hat? Weil das Funktionsprinzip des Neoliberalismus die grenzenlose Freiheit von jeglicher Kontrolle ist. Allein der Markt wird es richten, heißt der Glaubenssatz seiner radikalen Anhänger. Und die Politik ist ihnen gefolgt. Auch in der Bundesrepublik. Zug um Zug hat schon die rot-grüne Bundesregierung die Akteure am Finanzmarkt von Kontrollen befreit, ließ die hoch spekulativen Hedgefonds zu und erlaubte den Banken Kreditgeschäfte außerhalb ihrer Bilanz. Geschäfte, in die kein Aufsichtsrat Einblick nehmen durfte, geschweige denn sie kontrollieren kann und von denen er erst dann erfährt, wenn sie geplatzt sind und der Verlust beglichen werden muss. Schwarz-Rot hat diese Politik des staatlichen Kontrollverzichts, auch Deregulierung genannt, entschieden fortgesetzt und noch Anfang dieses Jahres die Finanzjongleure der Private-Equity-Fonds von ärgerlichen Steuerpflichten befreit. Damit nicht genug.
Zugleich haben zuerst Rot-Grün und dann Schwarz-Rot tatkräftig die gigantische Aufblähung der nunmehr eingestürzten Finanzmärkte gefördert. Durch die Abschaffung der Vermögenssteuer und die Privatisierung der Altersvorsorge noch unter Rot-Grün wurden Gelder statt in die Staats- und Rentenkassen auf die Finanzmärkte gelenkt. Und das im Verein mit einer radikalen Deregulierung der Arbeitsmarktpolitik wie etwa der Entfristung der Leiharbeit mit den Hartz-Gesetzen. Eine Politik, die eine rasante Ausweitung des Niedriglohnsektors und eine dramatische Senkung des Lohnniveaus insgesamt mit sich gebracht hat.
Im Ergebnis war und ist es eine immense Umverteilung von unten nach oben, mit der die zügellose Gier nach phantastischen Renditen am Finanzmarkt weiter angeheizt wurde. Nun liegt es offen zutage: Die neoliberale Politik der Deregulierer hat geradewegs in den Crash geführt. Längst schwappt die Finanzmarktkrise auf die so genannte Realwirtschaft über, will heißen: auf die Wirtschaftssektoren, deren Geschäft noch auf realen Produkten und Werten basiert. Um die Realwirtschaft zu stützen, hat die Bundesregierung nach der Hilfe fürs Finanzkapital ein zweites Paket gepackt, das "Maßnahmepaket zur Beschäftigungssicherung und Wachstumsförderung".
Allerdings hält dieser vollmundige Titel nicht annähernd, was er verspricht. Angeblich umfasst das Paket 50 Milliarden Euro, mit denen die Konjunktur stabilisiert werden soll. Doch in diesen 50 Milliarden sind bereits die erwarteten positiven Wirkungen des Maßnahmepakets eingerechnet. Eine Luftnummer also. Seriös ist das nicht. Schaut man genau hin, dann sind es auch nach Aussagen der Bundesregierung gerade einmal knapp zwölf Milliarden Euro, die der Staat, verteilt auf die Jahre 2009 und 2010, in öffentliche Aufträge investieren will. Sechs Milliarden jährlich, das wird aller Voraussicht nach nicht reichen. Jetzt darf nicht gekleckert, jetzt muss geklotzt werden. Die Bundesregierung wird ihrer großen Verantwortung nicht annähernd gerecht.
Statt durch öffentliche Investitionen und die Vergabe von Aufträgen die Kaufkraft und die Nachfrage zu stärken, setzt die Bundesregierung abermals auf Zins- und Steuervergünstigungen und verteilt somit wiederum nach oben. Mit einem wirksamen Konjunkturprogramm hat es nichts zu tun, wenn etwa denen, die sich heute ein neues Auto leisten können, für zwei Jahre die Kfz-Steuer erlassen werden soll.
Was muss nach dem grandiosen Bankrott der neoliberalen Finanzmarkt-Jongleure noch geschehen, bis die Politik bereit ist umzusteuern? Statt schön gerechneter Maßnahmepakete sind reale öffentliche Investitionen vonnöten, die den aktuellen Sog nach unten bremsen und darüber hinaus wirtschaftliche Stabilisierung und eine gesellschaftliche Perspektive bringen. Dazu gehört kurzfristig ein echtes Konjunkturprogramm von mindestens zehn Milliarden Euro schon in den nächsten sechs Monaten. Neben diesem akuten Rettungspaket braucht es ein langfristig angelegtes Investitionsprogramm von jährlich mindestens 40 Milliarden Euro. Woher die kommen sollen? Allein die Besteuerung von Millionären würde selbst bei einem Freibetrag von einer Million Euro und einem Steuersatz von nur einem Prozent knapp 20 Milliarden Euro erbringen.
Um Stabilität und Beschäftigung zu fördern, muss der Staat nachhaltig investieren, in die Zukunft investieren - vor allem in die Bildung, in den Ausbau und die dringend nötige Sanierung von Schulen, Kindertagesstätten, Universitäten. Statt immer mehr Personal abzubauen, wie in den zurückliegenden Jahren rigoros erfolgt, muss der Staat einstellen: Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Krankenschwestern und Pfleger, um nur einige Bereiche zu nennen, in denen die öffentlichen Sparprogramme zu unverantwortlichem Personalmangel geführt haben. Investiert werden muss in die Krankenhäuser und die übrigen Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, Not leidenden Gemeinden muss unter die Arme gegriffen werden - nicht nur im Osten, auch im Westen. Und: In die Zukunft investieren, das heißt auch, den ökologischen Umbau wirksam zu fördern. So kann die Binnennachfrage gestärkt, gesicherte Beschäftigung geschaffen werden.
Nach dem desaströsen Zusammenbruch der Finanzmärkte, für dessen Folgen wieder einmal alle gerade stehen sollen, kann es kein "Weiter so" geben: Geboten ist die strikte Abkehr von der neoliberalen Deregulierungspolitik, die am Finanzmarkt ins Fiasko und am Arbeitsmarkt in die Ausbreitung des Hungerlohns geführt hat. Es braucht Regeln und verlässliche Kontrolle, um zu verhindern, dass Gewinne stets privat eingestrichen, Verluste aber der Allgemeinheit aufgedrückt werden. Auch für das 480 Milliarden schwere Rettungspaket für die Banken muss gelten: Leistung nur bei Gegenleistung. Die Spekulationsprofiteure sollen zur Kasse gebeten werden. Schließlich haben sie das Desaster maßgeblich zu verantworten.
Politik muss auf eine gerechte Lastenverteilung zielen, statt die Umverteilung von unten nach oben zu organisieren. Dazu gehört es, diejenigen angemessen zu besteuern, die über hohe Einkommen und Vermögen verfügen, statt sie mit Steuererleichterungen und dem Verzicht auf Vermögens- und Erbschaftssteuer zu begünstigen. Und Politik muss den Skandal beenden, der da Hungerlohn heißt. Hunderttausende von Menschen in unserem Land gehen einer Vollzeitarbeit nach - doch weil ihr Lohn zum Leben nicht reicht, müssen sie trotzdem beim Staat um Hilfe anstehen. Das ist unwürdig. Und: Der Staat stockt die Niedriglöhne auf - und verteilt so wiederum nach oben, statt durch Verbot des Hungerlohns die Kaufkraft zu stärken. Ein Skandal, menschlich, politisch und ökonomisch. Deswegen muss es den gesetzlichen Mindestlohn geben, für alle Branchen und Berufe, denn Arbeit hat überall ihren Wert und ihren Preis.
Der Neoliberalismus ist bankrott - und wir brauchen mehr als Schadensbegrenzung durch eilends geschnürte Hilfspakete, die zudem üppig für die Banken ausfallen und beschämend dürftig da, wo es um gesellschaftliche Zukunftsaufgaben geht. Wir brauchen ein Umsteuern zu einer Politik, in der Gerechtigkeit und Solidarität nicht als verstaubte Sozialromantik abgetan werden, sondern die Grundlage unserer Gesellschaft und des politischen Handelns sind.