Ausgabe 04/2009
Das Heer der Armen wächst
Athen, Anfang April: Protest gegen die Haus- haltspolitik. Nahverkehr und öffentlicher Dienst streiken
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Das, was auf dem Immobilienmarkt der USA entstand, hat sich wie ein Flächenbrand auf der ganzen Welt ausgebreitet. Die Auswirkungen der Finanzkrise auf den globalen Süden werden von internationalen Institutionen als dramatisch eingeschätzt. Die Fakten sprechen für sich: Infolge von Auftragsrückgängen auf den internationalen Märkten sind in China bereits mehr als 20 Millionen Menschen ohne Arbeit (siehe S. 8), in Indien gab es mehr als 200000 Entlassungen allein in der Diamantenindustrie, in der Demokratischen Republik Kongo 300000 Entlassungen in der Rohstoffförderung, mehr als 30000 Textilarbeiterinnen sind in Kambodscha ohne Job. Nach Einschätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) werden 2009 weltweit mehr als 51 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz im Süden verlieren. Arbeitsplatzverlust in diesen Ländern bedeutet Armut: In Tadschikistan stieg der Anteil der Armen 2008 von 53 auf 60 Prozent. Für 2009 rechnet die Weltbank damit, dass mehr als 50 Millionen Menschen das Heer der Armen vergrößern werden. Bereits infolge der Nahrungsmittelkrise im Frühjahr 2008 - die Hungerrevolten in Haiti und der Brotaufstand in Kamerun sind nur zwei Beispiele - waren 44 Millionen Menschen Opfer von Unterernährung geworden.
Finanzmärkte der Industrieländer stecken Schwellenländer an
In Subsahara Afrika werden die Banken mit einheimischem oder regionalem Kapital versorgt und weniger mit ausländischen Krediten. Banken aus Schwellen- und Entwicklungsländern haben bis auf wenige Ausnahmen nicht am Handel mit Derivaten teilgenommen. Das Finanzsystem dieser Länder ist aber infolge der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordneten Liberalisierung der Kapitalbilanz dennoch mit den internationalen Finanzmärkten verknüpft und ist dadurch auf indirekten Wegen betroffen.
Reykjavik, Ende Januar: Island ist de facto bankrott. Energisch klopft die Bevölkerung beim Parlament an. Die Regierung konnte nur noch zurücktreten. Anfang Mai sind Neuwahlen
Ausländische Direktinvestitionen und Kredite für den Süden gehen infolge der Rezession in den Industrieländern dramatisch zurück. Das Geld aus dem Süden wird regelrecht durch die Finanzzentren der Industrieländer für die Rettung von Banken abgesaugt. Der Rückgang der Kapitalzuflüsse nach Afrika wird die einheimischen Finanzmärkte in einigen Ländern schwer treffen: Nigeria, Kenia und Südafrika erleben derzeit massive Wertverluste ihrer Aktienwerte. In Brasilien hat die Börse in Sao Paulo in wenigen Tagen die Hälfte ihres Wertes verloren.
Der Welthandel bricht ein
Nach Einschätzungen der Welthandelsorganisation (WTO) wird der Welthandel 2009 so stark einbrechen wie nie zuvor. Er dürfte im Vergleich zu 2008 um neun Prozent zurückgehen. Der starke Rückgang der Rohstoffpreise trifft die exportierenden Länder des Südens besonders stark: Ölpreise gehen um mehr als 70 Prozent zurück, mineralische Rohstoffe um mehr als 50 Prozent und Nahrungsmittel um mehr als 35 Prozent. Die unmittelbare Folge ist ein starker Rückgang der Staatseinahmen. Aus dem Handelsbilanzdefizit wird ein Haushaltsdefizit. Um das zu finanzieren, müssen sich die Länder neu verschulden.
London, Anfang April: Anlässlich des G20-Gipfels stehen sich Demonstrant/ innen und Polizei gegenüber
Armutsbekämpfungsprogramme, die vom öffentlichen Sektor finanziert werden sollten, könnten dann in vielen Ländern Afrikas auf der Strecke bleiben. Nahrungsmittel und Rohstoffe waren ein Spekulationsobjekt im globalen Kasinokapitalismus. Die Wetten von Finanzspekulanten haben die Rohstoffmärkte nicht stabilisiert. Im Gegenteil, sie haben hier große Instabilität verursacht.
Montevideo, Anfang April: Arbeiter in Uruguay demonstrieren gegen die Folgen der Krise
Hedgefonds und Steueroasen schaffen Armut im globalen Süden
Jahr für Jahr gehen Entwicklungsländern Milliardenbeträge verloren, weil Unternehmen und vermögende Privatleute ihre Gewinne und Vermögen auf eine Steueroase transferieren. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind neun Billionen Euro in Steueroasen geparkt, ein nicht zu unterschätzender Teil davon aus Entwicklungsländern. Von den Steuereinnahmen hängt die weitere Entwicklung dieser Länder ab. Der Ausbau von Verkehrswegen, die Einrichtung einer kostenlosen und qualifizierten Schulbildung und Gesundheitsversorgung müssen finanziert werden.
Kiew, Ende März: Ukrainische Oppositionelle erhoffen von Neuwahlen Schutz vor der Krise
Ohne diese Mittel erleiden Millionen Menschen eine massive Einschränkung ihrer Lebens- und Überlebenschancen. Wenn die Steueroasen entschiedener bekämpft werden würden, könnte mindestens das Zwei- und im besten Fall das Zehnfache der Summen freigesetzt werden, die durch die offizielle Entwicklungszusammenarbeit bereitgestellt werden.
Der Süden darf nicht die Zeche zahlen
Die ärmsten Länder müssen mit einem Stabilisierungspaket unterstützt werden, um beschäftigungswirksame und umweltfreundliche Investitionen zu fördern. Die im Rahmen des G20-Gipfel in London gemachten Zusagen sind ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings darf bei der Verwendung der Gelder diesen Ländern kein enges Korsett zur Haushaltsstabilisierung vorgeschrieben werden. Wie in den Industrienationen müssen die Regierungen die Freiheit haben, die Gelder für Infrastrukturmaßnahmen, Investitionen zur Konsumsteigerung, Sozialtransfers oder den Ausbau des sozialen Sicherungssystems zu verwenden.
Belfast, Ende März: Nachdem Massenentlassungen angesagt worden sind, treffen sich die Kollegen zum Sit-In vor den Werkstoren des nordirischen Autozuliefer-Konzerns
Die Entwicklungshilfe darf unter dem Druck der Krise nicht sinken. Vielmehr muss die Umsetzung des Ziels, 0,7 Prozent des Bruttoninlandsproduktes der Industrieländer für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, beschleunigt werden. Mittel- und langfristige Verpflichtungen wie das Erreichen der Millennium-Entwicklungsziele und die Bekämpfung des Klimawandels müssen im Mittelpunkt der Bemühungen von reichen Ländern stehen.
Der Autor ist mitarbeiter des SÜDWIND-Instituts
Gewerkschaften wollen kein "Weiter so"
Am 14. und 15. Mai, vor den geplanten Demonstrationen gegen den Kasinokapitalismus am 16. Mai, ver-anstalten der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften einen Kongress mit zahlreichen Foren und Einzelveranstaltungen in Berlin. Internationale Gäste aus Wissenschaft, Verbänden, Betrieben und Parteien werden erwartet. Mehr Infos: www.dgb.de