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Marsch für Europa in Brüssel anlässlich des Jahrestages der EU-Gründung am 1. November 1993Foto: Sopa Images/ddp

Oliver Röthig leitet als Regionalsekretär die UNI Europa. Die Gewerkschaftsinternationale ist die Stimme von 272 Gewerkschaften aus 50 Ländern und vertritt die Interessen von rund sieben Millionen Beschäftigten in Dienstleistungsberufen.

Die europäischen Dienstleistungsgewerkschaften haben ihre Zentrale in Brüssel angesiedelt. 27 Beschäftigte arbeiten dort bei der UNI Europa. Ihre Arbeit ist vielschichtig. Dazu zählt, die Interessen von Arbeitnehmer*innen in die politische Arbeit der EU einzubringen. "80 Prozent der deutschen Gesetzgebung gehen auf europäische Richtlinien zurück", sagt Oliver Röthig. Gewerkschaften müssten von Anfang an in die Prozesse bei der EU-Kommission und im EU-Parlament involviert sein. Klassische Lobbyarbeit also, bei der auch Themen gesetzt werden können.

Als ein Beispiel nennt er eine UNI-Kampagne zur öffentlichen Auftragsvergabe. Diese dürfe sich nicht allein am niedrigsten Preis orientieren, denn gute Arbeitsbedingungen haben einen Preis. Zusammen mit Vertreter*innen der nationalen Gewerkschaften wurden, nicht zuletzt mit Blick auf die 2024 anstehende Europawahl, Abgeordnete aus den jeweiligen Ländern angesprochen. Ziel ist, dass die Forderungen der Gewerkschaften Eingang in die Wahlprogramme finden. Auch in die formellen Gesetzgebungsprozesse der EU wird die UNI Europa als Sozialpartnerin einbezogen.

Doch gibt es nicht in verschiedenen Ländern unterschiedliche Interessen? "Man muss die Schnittmenge finden", sagt Röthig. Überdies setzten EU-Richtlinien gerade im sozialen Bereich Mindeststandards und geben einen Rahmen vor, der in nationale Gesetze umgesetzt werden müsse. Auf diesen Prozess müssten dann die nationalen Gewerkschaften in ihrem Land Einfluss nehmen.

Die UNI Europa unterstützt auch Europäische Betriebsräte und kämpft für globale Rahmenabkommen, die Standards unternehmensweit festschreiben. Etwa beim französischen Konzern Teleperformance, der weltweit Callcenter- und Backoffice-Dienste anbietet. Hier ebnet die Vereinbarung den Weg für gewerkschaftliche Aktivitäten in den einzelnen Ländern und Tarifverträge. Was in Deutschland selbstverständlich scheine, könne innerhalb eines Unternehmens zu einem gegenseitigen Unterbietungsdruck führen – und sich letztlich auch hierzulande auf die Arbeitsbedingungen auswirken.

Schwieriger sei es, die Bedeutung dieser internationalen Arbeit den Beschäftigten in den einzelnen Ländern sichtbar zu machen, sagt Röthig. Was für Einzelne vielleicht nur zu kleinen Veränderungen führe, verhindere, dass Unternehmen die Beschäftigten überrollen. Das zeige sich auch in der aktuellen Situation. Die Gewerkschaften müssten verhindern, das Unternehmen die Inflation nutzen, um durch Preissteigerungen ihre Gewinne zu erhöhen. Eine weitere Umverteilung, nicht zuetzt über nationale Grenzen hinweg, von den Beschäftigten hin zu den Unternehmen sei sozial ungerecht und wirtschaftlich nicht nachhaltig.

Anne Karrass arbeitet im Verbindungsbüro Europa von ver.di. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Sarah Benke-Åberg ist sie die Schnittstelle zwischen ver.di und den politischen Gremien der EU.

Etwa einmal im Monat fährt Anne Karrass für einige Tage nach Brüssel. Die Hälfte der Zeit dort verbringt sie mit geplanten Terminen, die andere Hälfte mit spontanen Treffen, etwa im Parlament oder bei Empfängen. "Man hört viel, bringt und nimmt Infos mit", sagt Anne Karrass zu ihren Aufenthalten in der belgischen Hauptstadt. Diese Infos gibt sie dann weiter in die politischen Bereiche bei ver.di, in die Fachbereiche und zum ver.di-Verbindungsbüro zum Bundestag,

Kontakte und Netzwerke

Auf diese Weise, aber auch durch das Auswerten von Arbeitsprogrammen und Analysen sowie durch die weiteren Kontakte des EU-Verbindungsbüros erfahren Fachbereiche und Bereiche von Themen, die auf EU-Ebene anstehen oder bewegt werden können. Ist ein Thema relevant genug für die in ver.di organisierten Beschäftigten, stellen Anne Karrass und Sarah Benke-Åberg Kontakte her zu entsprechenden EU-Politiker*innen oder ihren Referent*innen, mit denen die Kolleg*innen dann über ihre Einwände, Bedenken und Verbesserungsvorschläge sprechen können – am besten bei Terminen in Brüssel. Auch Stellungsnahmen von ver.di zu EU-Gesetzesvorhaben koordinieren sie und halten alle Beteiligten über den Stand der Prozesse auf dem Laufenden. Dabei sprechen sie sich eng mit dem Verbindungsbüro des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Brüssel und europäischen Gewerkschaftsverbänden ab.

"Das Europäische Parlament arbeitet sehr sachorientiert", sagt Anne Karrass. Konkrete Beispiele, wie sich eine geplante Richtlinie auf die Beschäftigten auswirken, würden gehört – auch wenn die Arbeitgeberseite beim Lobbying deutlich stärker aufgestellt sei. Die Themen seien vielfältig, reichten von den kaputten Händen der Friseurin bis hin zur Kommunalabwasserrichtlinie. Für erstere arbeitet ver.di schon seit vielen Jahren im sektoralen sozialen Dialog mit, um die Arbeitsbedingungen europaweit zu verbessern. Nur die EU-Kommission hat die dringend notwendige Richtlinie dazu verhindert. "Ich kann hier mein Wissen über Prozesse mit konkreten Themen zusammenbringen", sagt Anne Karrass zu ihrer Arbeit. Und als Ergebnis dazu beitragen, dass die die Bedingungen für Arbeitnehmer*innen in Europa verbessert werden.

Nicole Meyer ist die Vorsitzende des Europäischen Betriebsrats (EBR) der Orpea-Gruppe. Das französische Unternehmen ist im Bereich Pflege und Rehabilitation tätig, betreibt über 1.000 Einrichtungen in 23 Ländern. Meyer arbeitet in der Residenzgruppe Bremen, ist Vorsitzende des Betriebsrats Nord und des Gesamtbetriebsrats. Die Arbeit im EBR wird von der Europäischen Gewerkschaft für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) unterstützt.

2021 wurde Nicole Meyer zur Vorsitzenden des EBR bei Orpea gewählt. Aber die Folgen der Corona-Pandemie erschwerten in der ersten Zeit die konkrete Zusammenarbeit in dem Gremium, denn persönliche Kontakte lassen sich in Video- Konferenzen schwer aufbauen. Hinzu kam, dass im Frühjahr 2022 dubiose Finanzgeschäfte des Pflegekonzerns für Schlagzeilen sorgten. Eine Insolvenz drohte. Mittlerweile ist ein neuer Investor eingestiegen, eine Neustrukturierung wurde angekündigt. Ein Thema auch für den EBR, der diese Veränderungen im Sinne aller Beschäftigten begleiten werde, sagt Nicole Meyer. Es könne nicht allein nach nationalen Interessen gehen, der Konzern müsse als Ganzes betrachtet werden. Meyer hofft, dass der Konzern jetzt in ruhigeres Fahrwasser kommt.

Ein Problem ist europaweit der Fachkräftemangel. Daher will der EBR dazu beitragen, Pflegeberufe attraktiver zu machen und die Beschäftigten bei Orpea zu halten. Etwa mit der Verringerung der Arbeitsbelastung, verlässlichen Dienstplänen, Wertschätzung, der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch mit angemessenen Einkommen und Renten. Eine der Ideen ist eine Orpea-weite Betriebsrente, die immer weitergeführt wird, egal, wo man im Konzern arbeitet. Die Kolleg*innen aus den verschiedenen europäischen Ländern brächten jeweils unterschiedliche Erfahrungen mit, und das sorge für vielfältige Ideen und Blickwinkel.

Nicole Meyer hat in den vergangenen Jahren selbst erfahren, wie wichtig internationale Solidarität ist. Sie wehrte sich juristisch gegen einen Kündigungsversuch und gegen Mobbing durch den Arbeitgeber. Sie bekam in beiden Fällen Recht vor Gericht, und mittlerweile hat die neue Geschäftsführung angekündigt, die Urteile zu akzeptieren und zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zurückzukehren. Auch in anderen Unternehmensteilen und verschiedenen Ländern wurde die Arbeit von Interessenvertretungen behindert. Dass damit jetzt hoffentlich Schluss ist, führt Nicole Meyer auch auf den internationalen Druck zurück.

Internationale Dachverbände

Bereiche Ver- und Entsorgung, Gesundheit, Sozialversicherungen, Bildung, Wissenschaft und Forschung, öffentlicher Dienst

Europa

Europäischer Gewerkschaftsbund für den Öffentlichen Dienst, epsu.org

Welt

Internationale für den öffentlichen Dienst, world-psi-org

Bereiche Finanzdienstleistungen, Medien, Telekommunikation, Postdienste, Handel, Dienstleistungen wie Leiharbeit oder Friseurhandwerk

Europa

UNI Europa, uni-europa.org

Welt

UNI Global, Internationaler Gewerkschaftsverband für Dienstleistungsbereiche, uniglobalunion.org

Bereiche Transport, Logistik, Verkehr

Europa

Europäische Transportarbeiterföderation, etf-europe.org

Welt

Internationale Transportarbeiterföderation, itfglobal.org

Allgemein

In allen europäischen und internationalen Dachverbänden hat ver.di Vorstandsmandate

Die Themen und Kampagnen dieser Dachverbände sind unter anderem internationale Handelsabkommen, Digitalisierung, Steuergerechtigkeit, globale Abkommen mit internationalen Unternehmen, Migration, Anti-Korruption, Whistleblowers sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz

ver.di ist eine der acht Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Über ihn ist sie Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbunds (etuc.org) und des Internationalen Gewerkschaftsbunds (ituc.org). Dort sind auch auf der jeweiligen Ebene die oben genannten Verbände Mitglied.

In einigen Bereichen, etwa für Journalist*innen, gibt es eigene internationale Dachverbände.