Die Weltwirtschaftskrise hat die deutschen Seehäfen erreicht. Erstes Opfer: die Beschäftigten der "Gesamthafenbetriebe", vor allem in Bremen und Bremerhaven. Ein Besuch an der Außenweser

Von Eckhard Stengel (Text) und Julia Baier (Fotos)

Harald Bethge, Gewerkschafter

"Hier, schauen Sie mal!" Harald Bethge steht im Torhaus 2 des Bremerhavener Containerterminals an einem Fenster und schiebt die Gardine beiseite. "Das hier beschreibt die Situation am besten: links und rechts Van Carrier, die nicht arbeiten." Der Leiter des Fachbereichs Verkehr im ver.di-Landesbezirk Niedersachsen-Bremen zeigt auf 15 Meter hohe fahrbare Gestelle, mit denen sich bis zu vier Container übereinander stapeln lassen. Normalerweise wuselt es hier von diesen Portalhubwagen - bloß nicht überfahren lassen! Aber seit Januar kurvt nur noch da und dort ein Van Carrier um die haushohen Containerstapel.

Dutzende andere stehen akkurat eingeparkt in Reih und Glied neben Torhaus 2, das in Zeiten der Globalisierung natürlich nicht "Torhaus", sondern "Gatehouse" heißt. Dort warten sie. Und warten. Auf Arbeitsaufträge. Doch die kommen viel zu selten. Denn die Weltwirtschaftskrise hat auch die deutschen Seehäfen erreicht.

Thomas Köster,Hafenarbeiter

Bremerhaven wird offenbar am härtesten von allen gebeutelt. Der zweitgrößte Universalhafen Deutschlands lebt vor allem vom Containerumschlag und dem Ex- und Import von Fahrzeugen aller Art - Europas größte Autodrehscheibe. Aber die Umschlagzahlen fürs erste Quartal 2009 sehen mau aus. Container: minus 25 Prozent. Autos: minus 50. Jetzt drohen Massenentlassungen.

Vielleicht trifft es auch Nils Wehner. Der 37-jährige Containerbrückenfahrer, dick eingemummelt in Kapuzenpulli und Weste, steht draußen am Terminaleingang. Er hat heute nichts zu tun. Nur noch höchstens einmal pro Woche erklimmt Wehner einen der Umschlagkräne am Weserkai, schwingt sich in 50 Metern Höhe in die Fahrerkanzel und versenkt im Bauch der Frachter jene Blechboxen, die per Lkw oder Bahn angerollt sind. Oder umgekehrt: Er trägt Stück für Stück die Containergebirge der neu eingelaufenen Schiffe ab.

Doch wie lange noch? Die Hälfte der 40 Kräne, die man hier "Brücken" nennt, ist heute außer Betrieb. Man sieht das daran, dass ihre Ausleger zum Himmel statt zum Wasser ragen. Wenn früher ausnahmsweise mal ein Ausleger senkrecht stand, dann hieß es: "Guck mal - da wird gestreikt."

Jürgen Boettcher, GHB

Am Hafen konnte man gutes Geld verdienen

Wehner gehört zu den 2500 Beschäftigten des GHB, dessen Arbeitsplätze jetzt als erstes in Gefahr geraten sind. GHB? Das ist der "Gesamthafenbetriebsverein im Lande Bremen e.V.", ein Wortungetüm, das man erläutern muss. 1950 gründeten Hafenunternehmer-Verbände und die damalige Gewerkschaft ÖTV einen Arbeitnehmerpool, der dem Hafen das Atmen ermöglicht - wie bereits ein 1914 gegründeter Vorläuferbetrieb: Wenn mal zu viele Schiffe auf einmal anlegen und die Umschlagfirmen mit ihrem eigenen Personal überlastet sind, dann fordern sie Hilfe beim GHB an. Wenn danach für dessen Stauer, Fahrer, Lagerarbeiter oder Packerinnen nichts mehr zu tun ist, bekommen sie trotzdem weiter Geld vom GHB - aus einer Garantielohnkasse, die von den über 50 Mitgliedsfirmen bestückt wird. Seitdem es in großen deutschen Häfen solche Gesamthafenbetriebe gibt, ist es vorbei mit dem ständigen Heuern und Feuern, mit den Tagelöhnern, die auf den Ruf warteten: "Hein, komm mal mit!"

"Aber schreiben Sie bloß nicht, wir seien eine Leiharbeitsfirma!", mahnen Betriebsräte. Denn das klingt nach Niedriglohn und mitbestimmungsfreier Zone. Ganz anders der GHB: Da werden die entscheidenden Gremien paritätisch von Unternehmensvertretern und Gewerkschaftern besetzt. Und kein GHB-Beschäftigter verlässt den Terminal, ohne genauso viel Lohn gutgeschrieben zu bekommen wie die Kollegen aus den Umschlagfirmen. Denn für alle gelten dieselben Tarife, und die sind nicht schlecht: Wer sich nur hinters Steuer von Exportautos setzt und sie in einem Affenzahn an Bord der Autofrachter fährt, fängt bei 13,14 Euro brutto pro Stunde an; und wer zum Containerbrückenfahrer aufgestiegen ist, landet in der höchsten Lohngruppe mit über 20 Euro.

Wolfgang Lemke, Betriebsrat der Umschlagfirma BLG

Ganz schön verlockend klang das für Nils Wehner, als er 2005 beim GHB einstieg. Eigentlich war er ja Physiotherapeut. Aber was sollte da noch aus ihm werden, bei all den Gesundheitsreformen? Also auf zum Hafen. "Ich hatte gehört, da kannst du gutes Geld ver-dienen und hast 'nen sicheren Job."

Zunächst stimmte das ja auch. Der Umschlag wuchs - und mit ihm der Containerterminal, dessen Kai bis Herbst 2008 auf fast fünf Kilometer Länge ausgebaut wurde. Kosten: 440 Millionen Euro Steuergelder. "Gewinner der Globalisierung" wurden die Häfen genannt.

Wehner stand mit auf der Gewinnerseite. "Ich hatte einen festen Schichtplan", erzählt er. Jeden Abend las er auf seiner "Abgangsorder", wo genau er am nächsten Tag gebraucht würde. "Aber dann hat es Knallbumm gemacht", sagt er. "Im Dezember lief's noch gut, aber der Januar war wie so'n Paukenschlag." Der Fall war tief. Wehner muss jetzt - wie die meisten seiner Kollegen - täglich beim GHB anrufen, ob er am nächsten Tag gebraucht wird. Fast immer sagen ihm die Disponenten: "Keine Arbeit!" Denn andere rufen nur noch selten an: Umschlagbetriebe, die GHB-Personal anfor-dern. Sie haben es schon schwer genug, ihre eigene Stammbelegschaft sinnvoll einzusetzen.

Na gut, dann macht sich Wehner eben einen schönen Tag mit seiner Frau und den beiden Kleinkindern? Schön wär's. "Man sitzt ja nicht zuhause und ist vergnügt", sagt er. Im Gegenteil: "Es ist ein bisschen Horror. Man sitzt da nur und grübelt, grübelt, grübelt." Manchmal rauben die Zukunftsängste ihm den Schlaf.

Dabei ist Wehner durchaus flexibel. Wird er nicht bei den Containern gebraucht, schleppt er Bananenkartons oder zurrt an Bord Autos fest - auch wenn er dafür nur den geringeren Lohn eines Ungelernten kassiert.

Geparkt: Luxusautos finden derzeit keinen Absatz

Anstatt eines Meeres von Autos nur leere Parkflächen

Aber beim Autoumschlag ist ja noch weniger los als am Containerkai. Wolfgang Lemke sitzt im "Gatehouse 2" und hat seinen Schreibtisch so postiert, dass er nicht ständig das Elend vor seinem Fenster sehen muss. Der 55-Jährige leitet den Betriebsrat Bremerhaven der Bremer Umschlagfirma BLG, die den Autoterminal betreibt. Auf dem Sideboard in seinem Büro herrscht noch Boomzeit: Da stehen Modellfahrzeuge dicht an dicht. Aber draußen, auf den unübersehbar großen Freiflächen neben den Hafenbecken, da hat die Krise Schneisen geschlagen. Normalerweise parken dort eng aneinander gedrängt bis zu 100000 Fahrzeuge: neben Baggern und Treckern unzählige deutsche Limousinen, die in alle Welt verschifft werden sollen und vorher teilweise noch von der BLG für den Export umgerüstet werden. Und daneben die vielen Importwagen, bei denen die Schutzfolien entfernt werden müssen oder noch das eine oder andere Schiebedach eingebaut wird - der Hafen als verlängerte Werkbank. Bei Sonnenschein ein beeindruckendes Bild: ein Meer von glitzernden Autodächern. Jetzt stehen hier nur noch 53000 Wagen. "Da ist richtig tote Hose", sagt BLG-Betriebsrat Lemke.

Eine kleine Rundfahrt beweist das. Im Nordhafen liegt einer jener Autotransporter, die eher einem gigantischen Schuhkarton als einem Schiff ähneln. Früher, da machten sie nur wenige Stunden Station in Bremerhaven. "Aber der hier liegt schon seit fünf Tagen", erzählt ver.di-Sekretär Bethge, "und wartet auf Ladung. Die kommt nur kleckerweise." Vor allem die großen Limousinen sind international zu Ladenhütern geworden. Was noch geht, sind Kleinwagen. Auf der Dachebene eines fünfstöckigen "Parkregals", wo früher die großen Daimler-Karossen parkten, stehen jetzt handliche Smarts.

Nils Wehner, Hafenarbeiter

Manchmal läuft ein Frachter mit Kleinwagen aus Korea ein - Ersatz für Schrottautos in Deutschland. Aber die Abwrackprämie entfacht nur Strohfeuer, wie Bethge sagt: Sobald ein Schiff seine über 4500 Kleinwagen ausgespuckt hat, herrscht wieder gespenstische Ruhe.

Bis die Krise zuschlug, brauchte die BLG für den Autoumschlag neben gut 500 eigenen Leuten noch 500 GHB-Beschäftigte. Heute fordert sie bei dem Arbeitskräftepool nur noch 90 Leute pro Tag an. Gar nicht mehr gebraucht werden rund 500 reine Aushilfskräfte, darunter auch viele alleinerziehende Mütter. Die Aushilfen mussten als erste gehen. Seitdem sind die Bremerhavener Terminals wieder fest in Männerhand.

Im GHB-Betriebsratsbüro rauchen die Köpfe, und überall glimmen Zigaretten. Was tun gegen die Krise? Auf jeden Fall flexibler werden. "Da fährt dann ein Containerbrückenfahrer völlig überqualifiziert ein paar Autos durch die Gegend", berichtet ver.di-Mann Bethge. Wat mutt, dat mutt, sagt man auf Plattdeutsch. Keine Überstunden mehr, auch das ist klar. Und dann ist da noch die teilweise schon praktizierte Kurzarbeit.

Aber offenbar reicht das alles noch nicht, um Entlassungen zu vermeiden. Der GHB stockt das Kurzarbeitergeld der Arbeitsagentur mit eigenen Mitteln auf und hat dafür nur beschränkte Rücklagen. "Wir haben definitiv zu viele Leute an Bord", findet GHB-Geschäftsführer Hubertus Ritzke. Die Gewerkschafter stimmen ihm notgedrungen zu. Auch sie sehen im Moment keine andere Möglichkeit, als 800 Zeitverträge auslaufen zu lassen und womöglich bis zu 600 Festangestellten zu kündigen - nicht nur in Bremerhaven, sondern auch in Bremen, wo vor allem Frauen in der "hafennahen Logistik" arbeiten. Dort packen sie zum Beispiel reklamierte Tchibo-Pyjamas um.

Freie Sicht: Vor der Krise standen hier Container, haushoch gestapelt

Der Tag nach der Krise wird kommen - nur wann?

Ohne Entlassungen, so befürchtet der Bremerhavener GHB-Betriebsratschef Peter Frohn (53), "fahren wir das Ding in die Grütze": Dann müsse der Betrieb im August Insolvenz anmelden. Oder spätestens im September.

Aber die Gewerkschafter hoffen, doch noch einige der Kündigungen verhindern zu können. Eines ihrer Rezepte: Die großen Umschlagbetriebe sollen auf Überstunden verzichten und aus Solidarität stärker Kurzarbeit anmelden, als es für sie selber eigentlich nötig wäre. "Darüber verhandeln wir gerade", sagt Bethge.

Der ver.di-Sekretär fordert außerdem Hilfe vom Staat und nennt dabei das Zauberwort "systemrelevant": Die Häfen seien so wichtig für die Wirtschaft wie Banken oder Autoindustrie und müssten deshalb Unterstützung vom Land Bremen und vom Bund bekommen. Auch der SPD-Landesvorsitzende Uwe Beckmeyer verlangt einen "Schutzschirm für die maritime Wirtschaft". Doch die staatliche Hilfsbereitschaft beschränkt sich bisher mehr auf Worte als auf Finanzzusagen, und auch GHB-Betriebsrat Frohn macht sich keine Hoffnung auf Geld vom Staat.

In der Belegschaft fragt sich jetzt jeder: Wen trifft es? "Die Stimmung reicht von Tränen in den Augen bis zum Weinen", hat Vertrauensleute-Sprecher Jürgen Boettcher (59) beobachtet. Und alles nur, "weil jemand in Amerika an den falschen Knöpfen gedreht hat".

Gut möglich, dass auch Nils Wehner auf der Kündigungsliste stehen wird, nach nur vier Dienstjahren. Im November war seine Familie noch kurz davor, sich ein Haus zu kaufen. "Zum Glück habe ich das nicht gemacht."

Sein kräftig gebauter Kollege Thomas Köster, mit Drachen-Tätowierung auf dem linken Oberarm, hat schon 2005 ein Eigenheim erworben. Er bedauert das zwar nicht, "aber es bringt natürlich Schwierigkeiten". Denn schon jetzt fallen mehrere hundert Euro an Wochenend- und Überstundenzuschlägen weg. Weil der 34-Jährige bereits seit 1998 beim GHB arbeitet und drei kleine Kinder hat, hofft er, an Bord bleiben zu können. "Aber diese Ungewissheit - die schleicht wie ein Ungeheuer um einen herum."

Peter Frohn, GHB-Betriebsrat

Und wenn er doch entlassen wird? Was macht er dann? "Keine Ahnung", sagt er. Sein Kollege Wehner ist genauso ratlos. "Da ist ein großes, großes Fragezeichen über meinem Kopf." Bremerhaven zählt mit 16,2 Prozent Arbeitslosenquote zu den Armenhäusern Westdeutschlands. Die Werften kämpfen ums Überleben, und die an der Küste florierende Windkraftbranche sucht eher Elektriker oder andere Handwerker, aber keine Hafenfacharbeiter. Wehners Frau, zurzeit im Mutterschutz, ist Friseurin - ein Beruf, mit dem sie keine Familie ernähren kann. "Vielleicht stelle ich mich in die Fußgängerzone und singe." Wehner lacht bitter und steckt sich die nächste Zigarette an.

Draußen regnet es Bindfäden - das passende Wetter zur Stimmung. "Wir stehen alle im Regen", kommentiert ein Mitarbeiter der Umschlagfirma Eurogate, als gerade ein 310 Meter langer Containerfrachter ablegt. Für Laien sieht er gut beladen aus. Aber am geringen Tiefgang erkennen Fachleute sofort: Das Schiff hat vor allem leere Container an Bord, und daran verdienen die Häfen weniger als an richtiger Ladung.

Doch ver.di-Sekretär Bethge (61), im früheren Leben 25 Jahre lang Schiffsladungskontrolleur in Hamburg und heute oft schon morgens um vier Uhr wach vor lauter Sorgen um den Hafen, gibt die Hoffnung nicht auf. Der GHB hat 1973 und 1982/83 schon zwei Entlassungswellen überstanden. Auch diesmal glaubt Bethge: "Der Tag danach wird kommen." Fragt sich nur, wann.

Hatte schon bessere Zeiten: Die letzte Kneipe vor New York

Gesamthafenbetriebe

In großen deutschen Seehäfen existieren neben den Umschlagfirmen seit Jahrzehnten Arbeitnehmerpools, die den Betrieben dabei helfen, Auftragsspitzen flexibel abzudecken. Diese "Gesamthafenbetriebe" (GHB), als Verein oder als GmbH organisiert, bezahlen ihre Beschäftigten nach denselben Tarifen wie die Umschlagfirmen. Der GHB Bremen ist mit 2500 Beschäftigten - davon 1100 in Bremerhaven - der größte. Es folgen Hamburg mit 1100, Lübeck mit 270 und Rostock mit 70 Beschäftigten. Während in Bremen und Bremerhaven jetzt Massenentlassungen drohen, wurde die Mehrzahl der Hamburger Beschäftigten bisher nur auf Kurzarbeit gesetzt, in Rostock die ganze Belegschaft. In Lübeck sind befristete Verträge teilweise nicht verlängert worden; in Hamburg droht dies auch.