Fatima Islam

VON HARALD NEUBER (Text) UND ANJA WEBER (Fotos)

Am Ende seiner beschwerlichen Reise trennten Jonathan nur noch sieben Meter von seinem Traumziel. Es war an einem Sommertag im Jahr 2004. Der junge Mann aus dem Kongo, damals 29 Jahre alt, stand in einem Park von Lefkosia, der Hauptstadt Zyperns. Schlepper hatten ihn in den türkisch besetzten Nordteil der Mittelmeerinsel gebracht. Jonathan hatte dem Kongo den Rücken kehren müssen, weil er als Journalist Position gegen Rebellenführer Nkunda bezogen hatte. Monatelang hatte die Flucht aus dem Bürgerkriegsland gedauert. Sie führte ihn in den Norden Afrikas über Ägypten bis auf die arabische Halbinsel. Zu Fuß hatte er halb Syrien durchquert. Zypern sei ihm empfohlen worden, sagt er, weil dort vor ihm schon andere Vertriebene Zuflucht gefunden hätten. Vor allem aber ist Zypern Teil der Europäischen Union.

„Pull factor” heißt das im Brüsseler EU-Jargon, ein Grund für Flüchtlinge, ein bestimmtes Ziel zu wählen. Seit Zypern 2004 Mitglied der EU wurde, sind die Flüchtlingszahlen in die Höhe geschossen (siehe Kasten). Nicht nur die Nähe zu den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten und in Afrika sind dafür verantwortlich. Zypern steht vor einer geradezu absurden innenpolitischen Situation, seit das Land durch die türkische Besatzung des Nordteils 1974 geteilt wurde. Einerseits wird die innerzyprische Grenze von der Regierung im Süden nicht anerkannt. Andererseits ist die „Grüne Linie“, die Zypern seit fast 35 Jahren trennt, faktisch eine Außengrenze der EU. Eine der am wenigsten bewachten.

Jonathan mit Frau und Baby

An jenem Tag sollte also auch Jonathan sein Glück an dieser grünen Grenze versuchen. Noch aber stand er auf der falschen Seite der geteilten Hauptstadt. Die Schlepper hatten ihn gemeinsam mit einem anderen Mann aus dem Kongo und zwei Senegalesen zur mittelalterlichen Stadtmauer im Norden Lefkosias gebracht; die Grenze besteht hier nur aus einem Stacheldrahtzaun. An anderen Stellen ist die Pufferzone bis zu mehrere Kilometer breit.

„Es wäre eine gute Stelle gewesen”, sagt Jonathan, „hätte die Mauer im Süden nicht sieben Meter in die Tiefe geführt.” Doch es gab keine Alternative. „Als ich sprang, kam ich unten auf einem Stein auf und knickte um”, sagt Jonathan. Mit Schmerzen lag er auf dem Parkplatz am Fuß der Stadtmauer. Als Polizisten von der gegenüber liegenden Wache auf die Gruppe Afrikaner aufmerksam wurden, gab es keine Chance zu entkommen. Über mehrere Stunden wurde Jonathan festgehalten und immer wieder verhört. Auch die anderen waren aufgegriffen worden. Trotz der Verletzung hätten die Beamten ihm medizinische Hilfe verwehrt. Im Gegenteil: „Sie schlugen gezielt auf meinen verletzten Fuß und in die Genitalien”, sagt er. In der Nacht dann habe man sie an einer unbewohnten Stelle wieder an die Grüne Linie gebracht: „Ein Polizist hielt mir ein Gewehr an den Bauch und forderte uns auf, über eine Böschung in den Norden zurück zu gehen.“ Die Nacht über verbrachten sie im Gebüsch in der Pufferzone. Am Morgen schlichen sie sich endlich erfolgreich in den Südteil der Stadt, und einige Tage später bekamen sie den Tipp: Es gebe hier eine Gruppe, die ihnen helfen könne. So kamen sie zur „Bewegung für Gleichheit, Unterstützung und Antirassismus” (KISA), einer bekannten Flüchtlingsorganisation im Süden Lefkosias. Sie half den Männern, Asyl zu beantragen. Seither ist Jonathans Fall in Bearbeitung.

Hier sprang Jonathan sieben Meter in die Tiefe

Der Anlaufpunkt

Die KISA ist ein Anlaufpunkt für Asylsuchende. Viele Einwanderer wissen schon vor der Ankunft von der Organisation. Daran hat Doros Polykarpou einen entscheidenden Anteil. Seit Jahren setzt der Direktor der KISA sich für die Rechte von Flüchtlingen ein, mitunter gegen den Widerstand der Behörden, die ihn als Unruhestifter betrachten. „Das Problem in Zypern ist, dass unser Land über keine hinreichenden Asylgesetze verfügt”, sagt Doros Polykarpou. Er sitzt im sonnigen Innenhof eines kolonialen Gebäudes in der Altstadt Lefkosias. Ein Unbequemer, der immer wieder auf zahlreiche rechtliche Probleme und politische Versäumnisse hinweist. Etwa auf dieses: Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, können Flüchtlinge zwar vor dem Obersten Gericht klagen. Doch genießen sie dann keinen Asylschutz mehr. Einmal sei ein Asylbewerber, der eine Revisionsklage beim Obersten Gerichtshof eingereicht hatte, in einen leichten Autounfall verwickelt gewesen, berichtet Polykarpou: „Als er sich an die Polizei wandte, wurde er verhaftet und in Abschiebehaft genommen.” In anderen Fällen seien Asylbewerber bis zu drei Jahre inhaftiert worden – ein eindeutiger Verstoß gegen internationale Bestimmungen. „Wir drängen nun auf eine Debatte im Parlament”, sagt Polykarpou. Wenn das nichts bringt, will KISA vor den zuständigen EU-Gerichten gegen die „unmenschliche Behandlung” klagen.

Nicht unmenschlich, aber unsinnig findet Doros Polykarpou das „Empfangszentrum“ in Kofinou – das erste und einzige Flüchtlingslager Zyperns. Fernab der größeren Städte wurde in den Bergen der Provinz Larnaca ein Dutzend Container aufgebaut. „Bis zu 85 Flüchtlinge können hier untergebracht werden”, sagt die zuständige Sozialarbeiterin Zoe Magou. Die junge Frau steht in der prallen Mittagssonne zwischen den Containern und zählt die Vorzüge auf: drei Mahlzeiten am Tag, Schulbesuch für die Kinder, Bustickets für den, der in die Stadt müsse. „Zudem erhalten die Flüchtlinge hier in Kofinou 85 Euro Taschengeld im Monat”, fügt sie hinzu. Derzeit sind gerade einmal 21 Menschen in dem Lager.

Doros Polykarpou

Kein Wunder, sagt KISA-Chef Polykarpou. Das Camp in Kofinou sei gebaut worden, um Flüchtlinge aus den Städten fernzuhalten. Und weil die EU darauf bestand. Dabei ist auch ihm bei aller Kritik klar, dass der Flüchtlingsstrom Zypern vor ungemeine gesellschaftliche Probleme stellt. Die Immigranten – illegale und legale – machen inzwischen knapp 15 Prozent der Bevölkerung in der Republik Zypern aus. Zunehmende Fremdenfeindlichkeit ist die Folge: Das Gebäude, in dem die KISA ihren Sitz hat, wurde mehrfach mit rassistischen Parolen und Hakenkreuzen beschmiert. Kurz vor Weihnachten griff eine Gruppe Jugendlicher in Strovolos südlich der Hauptstadt ein 15-jähriges Mädchen aus Afrika an und verletzte es schwer. „Es war einer der schwersten rassistischen Übergriffe in Zypern in den vergangenen Jahren”, schrieb KISA später in einer Erklärung.

Slowakischer UN-Soldat

Auch Fatima Islam (22) weiß, wie es ist, nicht erwünscht zu sein. Die junge Frau stammt aus einer mittelständischen Familie in Bangladesch. 2003, damals war sie 16, ist Fatima mit einem Ausbildungsvisum zunächst legal nach Zypern gekommen, später hat sie Asyl beantragt. Mit elf Jahren sollte sie an einen Cousin zwangsverheiratet werden. Nachdem sie sich weigerte, lauerte ihr der verschmähte Bräutigam zusammen mit Freunden vor der Schule auf, um sie zu entführen. Als Fatimas Eltern die jungen Männer anzeigten, begann ein jahrelanger Kleinkrieg gegen das Mädchen und seine Familie. „Ich entkam damals nur knapp einem Säure-Anschlag”, sagt sie. „Die Verätzung des Gesichtes, das ist in Bangladesch die Strafe für Frauen, die angeblich unehrenhaft geworden sind.” Jahrelang musste sie sich verstecken. Irgendwann sah sie die Anzeige in einer Zeitung: „Ausbildung im Hotelmanagement in Zypern.” Obwohl ihre konservativen Eltern Bedenken hatten, buchten sie das Ticket.

„Die ersten beiden Jahre hier waren sehr schön”, sagt Fatima, „ich konnte endlich wieder ein normales Leben führen.” Die junge Frau sitzt in einem ungenutzten Konferenzraum der KISA. Hinter ihr stapeln sich Stühle. Die Kreidenotizen an der Tafel zeugen von vergangenen Griechisch-Stunden. Während der Ausbildung wies ihr das Arbeitsamt in Zypern einen Job bei einer Fast-Food-Kette zu. So verdiente sie sogar ihr eigenes Geld. Die Probleme begannen, als ihr Visum 2005 auslief, und sie, inzwischen volljährig, einen Asylantrag stellte. „Als ich das Ersuchen auf der Polizeiwache stellte, schrien mich die Beamten an und begannen mich zu beschimpfen”, sagt sie. Nicht ein Mal sei sie in Zypern von Beamten freundlich behandelt worden. Im Mai 2005 verlor sie zudem ihre Arbeitserlaubnis. Die Regierung hatte die Arbeitsbestimmungen für Flüchtlinge verschärft. Fast alle Jobs wurden verboten, außer Erntearbeit. Doch gerade Frauen schrecken davor zurück. „Auf dem Land ist man ganz allein”, sagt Fatima, „und es gibt immer wieder Berichte über Vergewaltigungen.” Heute teilt sich Fatima, wie viele Flüchtlinge, in Lefkosia eine Wohnung mit anderen Asylsuchenden. Seit nun fast vier Jahren wartet sie auf eine Entscheidung der Behörden.

Checkpoint in Nikosia

Zu dieser Situation trägt nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen auch ein Abkommen bei, das Anfang der neunziger Jahre von Staat, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt wurde. Damals wurde nicht nur festgelegt, dass ein Unternehmen bei Stelleneinsparungen zunächst den ausländischen Arbeitnehmern kündigen muss. Es wurde auch vereinbart, dass ein Agrarunternehmer rund ein Viertel des Lohns einbehalten kann, wenn er seinen - meist ausländischen – Kräften Kost und Logis gewährt. Aufgrund mangelnder Kontrolle kam es seither immer wieder zu drastischer Ausbeutung.

Pambos Kyritsis

„Wir sehen sehr wohl, dass es hier Nachholbedarf gibt”, sagt Pambos Kyritsis. Der Generalsekretär des größten Gewerkschaftsbundes PEO greift nach einem Glas Eiskaffee, das ein Mitarbeiter auf einem der typischen osmanischen Tabletts mit Tragebügel hereinbringt. Der Gewerkschaftsvorsitzende, 50 Jahre, grauer Anzug, sitzt vor einer breiten Glasvitrine mit Ordnern und Fachbüchern über Arbeitsrecht. Ein Konterfei des argentinisch-kubanischen Revolutionärs Ernesto „Che” Guevara erinnert daran, dass die Gewerkschaft der derzeit regierenden „Arbeitspartei des werktätigen Volkes” (AKEL) nahe steht – der einzigen kommunistischen Regierungspartei in der EU. Dass die Gewerkschaft damals so gehandelt habe, liege am rapiden Anstieg der Arbeitsimmigration, sagt Kyritsis: „Wir waren darauf schlichtweg nicht vorbereitet.” Vor wenigen Monaten sei der Arbeitsmarkt für ausländische Kräfte immerhin wieder etwas geöffnet worden. In zehn Branchen dürften Asylbewerber nun wieder arbeiten. Das Hauptproblem aber bleibt Kyritsis ́ Meinung nach die türkische Besatzung: „Aus dem Norden kommen täglich neue Flüchtlinge nach Zypern.” Die türkische Verwaltung, glaubt der Gewerkschafter, nutze den Flüchtlingsstrom als Druckmittel in den laufenden Verhandlungen über eine Wiedervereinigung Zyperns.

Der Minister

Neoklys Sylikiotis

Neoklys Sylikiotis, Innenminister und Mitglied des Zentralkomitees der regierenden AKEL-Partei, sind die sozialen Probleme bewusst. Doch der Politiker sieht sich Druck von verschiedenen Seiten ausgesetzt: Er muss die Vorgaben der EU umsetzen. Er muss die Interessen des zyprischen Staates wahren. Und er will die Rechte der Flüchtlinge und seine politischen Ideale nicht verraten. Als vor einigen Monaten iranische Asylsuchende vor seinem Ministerium eine Mahnwache hielten, gesellte er, der Minister, sich zu ihnen.

„Unser Problem ist die Politik der Europäischen Union“, sagt Sylikiotis. Er weist auf einen Berg von Aktenordnern auf einem Sideboard hinter seinem Schreibtisch. Links davon stehen die EU-Flagge und die Fahne Zyperns. Sie zeigt die Umrisse des Inselstaates auf weißem Grund über zwei Palmzweigen als Symbol des Friedens. Sylikiotis lockert seine Krawatte. Die Staaten der Union, sagt er und deutet auf die blaue EU-Flagge, seien nicht bereit, das Flüchtlingsproblem auf alle Schultern zu verteilen. Dazu gehört auch der Zwang, dass Flüchtlinge nach EU-Recht in dem Land bleiben müssen, in dem sie ihren Asylantrag gestellt haben. „Brüssel gibt uns einige Finanzmittel, um sich freizukaufen“, beklagt sich der linke Politiker. Dass eine einheitliche Flüchtlingspolitik fehle, bekämen vor allem Staaten wie Zypern oder Malta zu spüren, die sich besonders nah an den Krisenregionen des Südens befinden: „Wir sind die Leidtragenden der Wagenburgmentalität Brüssels.”

Der Flüchtlingsstrom

Die Grüne Linie zwischen der völkerrechtlich anerkannten Republik Zypern und dem besetzten Norden ist faktisch eine Außengrenze der EU. Sie wird, wie auch eine unterschiedlich breite Pufferzone zwischen beiden Seiten, von zuletzt knapp 1 000 Blauhelm-Soldaten der United Nations Peacekeeping Force in Cyprus (UNFICYP, Friedenstruppe der Vereinten Nationen in Zypern) bewacht.

Weil die Grenze von der Republik Zypern aber nicht anerkannt wird, ist sie auf südlicher Seite nur spärlich bewacht. Blauhelme schützen die Demarkationslinie, laut Auftrag müssen sie jedoch nicht die Flüchtlinge aufhalten.

Den zyprischen Behörden liegen derzeit gut 11 000 Asylanträge vor. Die UNO schätzt die Zahl der illegalen Immigranten in der Republik auf rund 60 000. Andere Quellen gehen von 100 000 Menschen ohne Papiere aus. Insgesamt leben im Süden der Insel knapp 780 000 Menschen.