Durch Raum und Zeit

Jon Balke: Siwan | Das waren noch Zeiten. Juden, Christen und Moslems lebten einst beschaulich miteinander im alten Spanien, Al-Andalus genannt. Die moslemischen Herrscher ließen die unterschiedlichen Kulturen gewähren, Dichtung und Tonkunst hatten Gelegenheit, sich zu begegnen, aneinander zu wachsen oder gemeinsam die Schönheit der Natur zu preisen. 1492 machte die Inquisition diesem fruchtbaren Multikulti ein Ende, während im nördlicheren Europa die ersten zarten Triebe des Frühbarocks in Dur und Moll aufkeimten. Ähnlich wie in Al-Andalus wurden tiefe Seufzer der Sehnsucht vertont und betörende Gärten besungen. Von diesem Crossover der Kulturen hat sich John Balke inspirieren lassen. 2007 sollte der norwegische Komponist und Pianist eine Komposition zur Jubiläumsfeier der Osloer Kulturbühne Cosmopolite beisteuern. Kurz zuvor erst hatte er die Stimme der marokkanischen Sängerin und Kulturwissenschaftlerin Amina Alaoui entdeckt, die sich intensiv mit der alten Musik und der Lyrik Al-Andalus befasste. Gemeinsam mit dem dichten Violinenspiel von Kheir Eddine M’Kachiche und der persischen Handtrommel von Pedram Zamini bilden sie den arabischen Teil des Ensembles, das Balke begann, intuitiv zusammenzustellen. Bald ergänzte ein zwölfköpfiges norwegisches Barockensemble die bunte Truppe, sowie Jazz- und Weltmusiker Jon Hassel mit seiner unverwechselbar luftigen Trompete. Dennoch ist Siwan (Balance) keine Reanimation eines antiken Sounds. Viertes Element dieses Klangs ist die kollektive Improvisation. Die Musik dieser Zeit ist nur vage dokumentiert, so ist die Lyrik Ausgangspunkt dieser musikalischen Suche nach Gemeinsamkeiten und einer Zukunft im Heute.

Zehn Stücke tauchen ein in diese faszinierende Art der Musikerschaffung. Dur und Moll des Westens vertragen sich auf erstaunliche Weise mit den für unsere Ohren gewöhnungsbedürftigen Vierteltönen der arabischen Tonleiter, während die Stimme Alaouis kraftvoll und modern die Worte zu Melancholie formt. Dazu weht schwerelos immer wieder die Trompete Jon Hassels um die grünen Hügel andalusischer Schwärmerei und europäischer Tonstrenge. Siwan ist eine musikalische Vision: So könnte Musik auch heute klingen – wäre die Geschichte nicht anders verlaufen. Manfred Eicher hat derweil einen weiteren Grund zum Feiern: sein renommiertes und einzigartig eigenständiges Label ECM, Heimstatt von Künstlern wie Jan Garbarek oder Keith Jarrett, wird 40. Zum Geburtstag gibt es auch ein Geschenk: Siwan ist mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik 2009 ausgezeichnet worden. Jenny ManschNEUE MUSIK, CD, ECM/LOTUS


Andy Narell and Relator: University Of Calypso | Der New Yorker Andy Narell spielt die Steel Pan seit er sieben ist. Sein Spektrum reicht von Latin Music über brasilianische Choros, afrikanischen Pop und Jive, argentinische Tangos und Jazz-Songs bis zu Werken von Bach. Besonders verbunden fühlt er sich allerdings mit der Karibikinsel Trinidad und deren Calypso-Tradition. Schließlich verdankt Narell seine musikalische Berufung den von dort stammenden, aus alten Ölfässern gefertigten Pans. Gemeinsam mit Sänger Relator lässt er die Goldene Ära des Genres wieder auferstehen. Damals in den Fünfzigern fanden der revolutionäre Steel-Sound und die Jazz-Improvisation zueinander. Narell und Co. haben 15 Calypso-Klassiker mit virtuosen und trickreichen Soloparts auf Hochglanz poliert. Sie brechen auf University of Calypso eine Lanze für die Old School und liefern das Urlaubsfeeling gleich mit. So macht studieren Spaß! rix

CALYPSO, CD, INAKUSTIK


Die Goldenen Zitronen: Die Entstehung der Nacht | Musik, das war bei den Goldenen Zitronen stets nicht einfach nur Musik. Sondern auch Mittel der Politik, ja revolutionäre Waffe. Der philosophische Apparat, der das Werk umgab, drohte dieses bisweilen zu erdrücken. Zum besseren Verständnis ihres neuen Albums Die Entstehung der Nacht geben die Hamburger denn auch dem Konsumenten zehn Thesen mit an die Hand: In denen geht es um Kapitalismus und Konfrontationslinien, um „die Verhältnisse” und um Utopien. Da spürt man einerseits die Herkunft der Band aus dem politischen Punkrock, andererseits die Tatsache, dass die Vordenker Schorsch Kamerun und Ted Gaier mittlerweile als Theatermacher mit dem entsprechenden theoretischen Rüstzeug reüssieren. Das Ergebnis sind widerspenstige, sperrige Songs, die eingängige Melodien und Rhythmen ablehnen, sich systematisch sperren gegen alle Vorgaben der populären Unterhaltungsmusik. Musik muss eben mehr – hier gibt sie ein Statement ab gegen ihre eigene Konsumierbarkeit. to

PUNKROCK, CD, BUBACK/INDIGO