Sie kann sich und ihre Familie ernähren: Kleinbäuerin in Zimbawe

Von Manfred Kriener

Die Buchhalter der Katastrophe leisten ganze Arbeit. Bis auf die zweite Kommastelle hinter der Milliarde werden die Hungernden dieser Welt erfasst und als Kohorten des Elends von der Welternährungsorganisation FAO mustergültig verwaltet. Man lässt sie in Tortengrafiken fließen, verteilt die prozentualen Anteile exakt auf Kontinente und Regionen und erstellt minutiöse Welt-Hungerkarten, deren gelbe, orange und rote Punkte farbenfroh leuchten. Der Norden ist auf diesen Karten komplett in unschuldiges Weiß getaucht, der Süden kunterbunt. Und mittendrin im Herzen des südlichen Afrikas macht sich ein hässlicher großer brauner Flecken breit: In diesem Gebiet hungern mehr als 50 Prozent der Menschen. Braun ist die Farbe des Todeskampfs.

Wer es noch genauer wissen will, kann die "Hunger-Profile" einzelner Länder abrufen. "Wählen Sie ein Land!", lädt die FAO zur Tiefenbetrachtung ein. Unsere Wahl fällt auf "Äthiopien", das genauso viele Einwohner wie Deutschland zählt. Einen Klick weiter werden wir mit allen Details zur Ernährungslage des Landes gefüttert: 1 840 Kilokalorien beträgt die durchschnittliche Energieaufnahme der Einwohner, 34,5 Millionen Menschen hungern, das sind 44 Prozent. Äthiopien zählt zu den 29 Hunger-Brennpunkten auf der Welt, zu den Ärmsten der Armen.

Ein stiller Tsunami alle zwei Wochen

Nach FAO-Angaben hungern inzwischen weltweit 1,02 Milliarden Menschen. Das sind mehr als je zuvor, seit im Jahr 1970 erstmals die einschlägige Statistik erhoben wurde. Zum ersten Mal seit Beginn der Zählung wurde jetzt die Milliardengrenze durchbrochen, fast jeder sechste Erdenbewohner hat nicht genug zu essen. 70 bis 80 Prozent der Hungernden leben in ländlichen Regionen, Frauen sind stärker betroffen als Männer. Das große Ziel, die Zahl der Hungernden zu halbieren, ist in weite Ferne gerückt.

Besonders alarmierend ist die ungebremste Dynamik der Krise. Ralf Südhoff vom UN-Welternährungsprogramm spricht von einer "nie da gewesenen Explosion der Not", weil "innerhalb von Monaten mehr als 100 Millionen zusätzlich zu Hungernden wurden." Das sind mehr Menschen als in Deutschland, der Schweiz und Österreich zusammen leben. Südhoff beziffert die Zahl der Todesopfer durch chronische Unterernährung auf 250 000 Menschen in zehn Tagen - "mehr als 2004 beim Tsunami in Südostasien ums Leben kamen". Ein stiller Tsunami alle zwei Wochen.

Mit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise hat sich die ohnehin eskalierende Hungerepidemie nochmals verschärft. Die Investitionen in den Entwicklungsländern sind eingebrochen, Kredite schwerer zu bekommen. Hunderttausende internationaler Wanderarbeiter sind entlassen worden. Und der Geldtransfer jener Ausländer in den Industrieländern, die ganze Großfamilien in Afrika oder Asien mit ihren Verdiensten ernähren, ist ebenfalls stark zurückgegangen. Ihre Versorgung der Verwandten übersteigt seit Jahren die Entwicklungshilfe-Zahlungen.

Nie war die Katastrophe sichtbarer

Die Flut der schlechten Zahlen macht zumindest eines deutlich: In der langen Geschichte des Hungers waren seine Ausmaße nie besser dokumentiert. Nie war die Katastrophe sichtbarer. Und dennoch bleibt das politische Gewicht des Themas federleicht. Zum Welternährungsgipfel im November in Rom war wieder nur die zweite und dritte Garde der Politiker angereist. Die Hungernden, so die Erkenntnis auf dem parallel laufenden "Forum der Zivilgesellschaft", sind eben keine Bank, die "systemrelevant" ist. So geriet der Welternährungsgipfel zur routinierten Bestandsaufnahme, die von einer schwachen Erklärung überschattet wurde. Rudolf Buntzel, Ernährungsfachmann beim Evangelischen Entwicklungsdienst und seit Jahrzehnten im Kampf gegen den Hunger gestählt, teilt die Kritik am römischen Gipfel, versucht aber, das Positive herauszustellen: Man dürfe nicht übersehen, dass in Rom das Recht auf Nahrung und die Leitlinien zur Realisierung dieses Rechts gestärkt worden seien. Diese Linien definieren die gute politische Praxis in der Agrar- und Ernährungspolitik und könnten so zum Einfallstor für die Kritik der Zivilgesellschaft werden. Buntzel: "Wir brauchen dringend eine Plattform, um die Hungerpolitik der Regierenden angreifen und brandmarken zu können." Eine solche Plattform könnte auch das neu geschaffene "Komitee für Ernährungssicherheit" sein, eine zwischenstaat-liche Einrichtung, in der alle Länder der Erde, aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft, Kleinbauern-Vertreter und internationale Organisationen sitzen und dem ein Gremium von Wissenschaftlern zur Seite steht.

Nur: Wenn das neue Komitee zu einer Art Wachhund der internationalen Ernährungspolitik wird, wofür hat man dann eigentlich noch die FAO? Klar ist, dass die Welternährungsorganisation ein Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Dies wurde auch in Rom wieder deutlich, als zum hundertsten Mal Produktionssteigerungen der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern in Aussicht gestellt wurden. Doch die immer wieder beschworene grüne Revolution mit Ertragssteigerungen durch Hochleistungssaatgut, Mineraldünger und Pestizide, durch satellitengestützte Warnsysteme gegen Insektenplagen und grüne Gentechnik - das alles geht an der Realität der Kleinbauern vorbei. Tolberth Jallah, Generalsekretär des Westafrikanischen Kirchenrats, kritisiert, die FAO setze viel zu sehr auf Geld, Investitionen und Technik. "Die Potenziale der Menschen werden vernachlässigt, und ein wirkliches Mitgefühl für die Leiden der Hungernden erkenne ich nicht."

Und doch hat sich eines grundlegend geändert: Auch die FAO hat inzwischen die Kleinbauern entdeckt. "Zumindest im Denken hat sich das durchgesetzt", sagt Hungerexperte Buntzel, "leider nicht im politischen Tun." Als vor einem Jahr der von 400 Wissenschaftlern verfasste Bericht des Weltagrarrats die Kleinbauern ganz in den Focus stellte, hat dies der Diskussion wichtige Impulse gegeben. Der von der UNO installierte Weltagrarrat verlangte eine radikale Wende der globalen Agrar- und Ernährungspolitik zugunsten einer nachhaltigen kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Nicht mehr die Produktionssteigerung an Hochertragsstandorten müsse im Mittelpunkt stehen, sondern die Förderung der Kleinbauern gerade in den schwierigen, ertragsschwachen Gebieten. Dort könnten die Erträge verdreifacht werden, dort müssten traditionelle Anbaumethoden gefördert und weiter entwickelt werden. Zum großen Welternährungsgipfel in Rom war der Weltagrarrat allerdings nicht eingeladen worden, was vor allem die Nichtregierungsorganisationen empörte.

Landwirtschaft von unten

So sind die Reflexe immer noch die alten. Kaum ist der Kleinbauer entdeckt, wird schon wieder versucht, ihn mit reichlich Turbosaatgut, Dünger und Pestiziden zum Großbauern zu machen, ihn also abzuschaffen, kritisiert Benny Härlin, der im Aufsichtsrat des Weltagrarrats sitzt. Der Grundgedanke einer "Landwirtschaft von unten" werde von der FAO nach wie vor nicht umgesetzt. Und Rudolf Buntzel moniert, dass alle Bekenntnisse zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft folgenlos bleiben, solange die Kleinbauern in den Entwicklungsländern schutzlos den subventionierten Importfluten und dem Treiben liberalisierter Märkte ausgesetzt seien.

Schutz brauchen Kleinbauern und Millionen Landarbeiter auch vor den Landaufkäufern. Denn neben dem starken Bevölkerungswachstum, neben der Biosprit-Plage, dem Klimawandel und den noch immer hohen Lebensmittelpreisen ist der Aufkauf riesiger Agrarflächen durch internationale Konzerne eine wachsende neue Bedrohung. Jetzt, auch dies ist ein Ergebnis des römischen Gipfels, sollen neue Leitlinien die Verpachtungen und Landkäufe genauer regeln und zwischen Landraub und guten Investitionen unterscheiden. Dabei mache es keinen Sinn, sagt Buntzel, Förderprogramme für Kleinbauern aufzulegen, wenn davon nur jene angesprochen werden, die Landrechte haben, etwas Geld, Internetanschluss und eine Ausbildung. 90 Prozent der Bauern in den Entwicklungsländern würden dann wieder durchs Raster fallen.

Nachschlag

Fast 40 Prozent aller für den amerikanischen Markt bestimmten Lebensmittel werden nicht gegessen, sondern weggeworfen. Der dadurch vergeudete Energiewert von täglich 442 Milliarden Kilokalorien würde locker ausreichen, um den weltweiten Hunger zu stillen. Außerdem hat die Wegwerfsucht dramatische Folgen für Umwelt und Klima. Um Pflanzen anzubauen, sind Energie und Dünger nötig. Tierhaltung, vor allem die von Kühen, verursacht Unmengen des Klimakillers Methan. Und auch die Verarbeitung sowie der Transport von Waren verschlingen Ressourcen. Ein Aufwand, der zu großen Teilen nur dafür betrieben wird, dass die Lebensmittel am Ende auf einer Mülldeponie landen oder verbrannt werden.