Ausgabe 03/2010
Zurück in die Zukunft
Von Jürgen Dehnert
Kampf für die 35-Stunden-Woche: Bilder vom Streik im Mittelrhein-Verlag Koblenz 1990
Was für ein Jubiläum. Vor 20 Jahren, im Frühjahr 1990, wurde die 35-Stunden-Woche in den Tarifverträgen der Metallindustrie und der Druckindustrie festgelegt und schrittweise bis 1995 in den Betrieben umgesetzt. Die durchschnittliche Arbeitszeit für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sank erstmals unter 40 Stunden. Die 35-Stunden-Woche schien die Zukunft für alle Branchen zu sein. Nach den neuesten verfügbaren Zahlen arbeiten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland heute durchschnittlich 40,3 Stunden pro Woche, im Westen sogar 40,4 Stunden, die längste Arbeitszeit seit 1988. Am stärksten betroffen sind die Metallindustrie und der öffentliche Dienst. Von 2002 bis 2006 erhöhten sich die Arbeitszeiten um rund eine Wochenstunde. Aktuell sind die größten Sprünge ausgerechnet im Segment zwischen 35 und 39 Wochenstunden zu verzeichnen.
Dann kam die Deregulierung
Die Initiative bei der Arbeitszeit geht heute eindeutig von den Arbeitgebern aus. Schon bei der Einführung der 38,5-Stunden-Woche waren den Betriebsparteien in der Metallindustrie Variationsmöglichkeiten eingeräumt worden, die den Streit in die Betriebe verlagerten. Diese Entwicklung setzte sich fort. Die Arbeitgeber nutzten dies zu einer vollständigen Neuorganisation und zur Ausweitung der betrieblichen Nutzungszeiten, zur Entkoppelung der betrieblichen von der tariflichen Arbeitszeit. Die Folgen waren Flexibilisierung und Deregulierung. So steht im Organisationsbereich von ver.di, in der Druckindustrie, die 35-Stunden-Woche noch im Tarifvertrag. Aber seit 2005 wird auch tariflich die Möglichkeit von Arbeitszeitkonten eingeräumt, die vorher schon in vielen betrieblichen Regelungen die tarifliche Arbeitszeit faktisch ausgeweitet haben. In der öffentlichen Diskussion spielt die 35-Stunden-Woche entweder keine Rolle oder sie wird als Irrweg der Geschichte gesehen. Da nimmt man dankbar zur Kenntnis, dass Eva Roth in der Frankfurter Rundschau das Thema aufgreift und die Frage stellt: "Was hat es gebracht?". Die Antwort von Rudolf Zwiener, Volkswirt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Durch die Arbeitszeitverkürzungen zwischen 1985 und 1992 dürften etwa eine Million Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten worden sein.
Erkenntnisse erneuern
Ein Zurück in die Zukunft wird nicht einfach sein. Die Menschen haben jahrzehntelange Erfahrung mit Krisen, Massenarbeitslosigkeit, mit Personalabbau. Längere Arbeitszeiten werden als das kleinere Übel in Kauf genommen gegenüber weiteren Einkommensverlusten oder dem Verlust des Arbeitsplatzes. Dennoch ist es nötig, wieder Anlauf zu nehmen. Die Erfolgsaussichten für eine neue Arbeitszeitinitiative steigen, wenn die Gewerkschaften die Wünsche der Menschen beachten. Die letzten Erkenntnisse für den Organisationsbereich von ver.di sind mittlerweile sieben Jahre alt und müssten dringend erneuert werden. Nach einer Umfrage von 2003, an der sich immerhin ein Prozent der Mitgliedschaft beteiligte, gibt es nach wie vor eine Mehrheit für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Unter den Vollzeitbeschäftigten, versteht sich. Wer über 40 Stunden arbeitet, will eine erheblich kürzere Arbeitszeit, wer weniger als 25 Wochenstunden hat, will mehr arbeiten. Der Mittelwert liegt, welch ein Zufall, bei 35 Stunden. Allerdings zeigt diese Umfrage auch, dass der Wunsch nach individueller Veränderung größer ist als nach einer einheitlichen Tarifforderung von ver.di. Über 40 Prozent der Befragten sehen als größtes Problem an, dass sie zu geringe Einflussmöglichkeiten auf die eigene Arbeitszeit haben.
Für eine individuelle Gestaltung
Arbeitszeitverkürzung in allen Formen ist nach wie vor die Zukunft. Nur sie kann die Lasten der ständig steigenden Produktivität auffangen. Nur sie kann verhindern, dass die Geschlechterrollen, Männer als Familienversorger mit langer Arbeitszeit, Frauen in Minijobs, zementiert werden. Nur sie kann Arbeitsplätze dauerhaft sichern. Aber es gibt nicht die eine gewerkschaftliche Forderung, die alles auffängt, es reicht kein Beschluss einer großen Tarifkommission. Eine neue gewerkschaftliche Arbeitszeitinitiative muss umfassend ansetzen und den Wünschen nach individueller Gestaltung der Arbeitszeit Rechnung tragen.