Ausgabe 04/2010
Ein Arzt ohne Grenzen
Mandy V. ist zur Vorsorgeuntersuchung mit ihrem einjährigen Sohn Sebastian zu Dr. Adnan Akbaba gekommen. Er ist derzeit der einzige Kinderarzt im Hamburger Problemkiez Steilshoop, einem Viertel mit 20000 Einwohnern auf einem Quadratkilometer
von Heike Dierbach (Text) und Andreas Herzau (Fotos)
Mandy V. hat fünf Kinder und eine Wut im Bauch. „Eine Schweinerei war das“, sagt die 34-Jährige, „hier leben so viele Kinder, und niemand wollte sie versorgen“. Die Frau mit Pferdeschwanz und hellgrauer Sweatshirtjacke legt ihren nackten Einjährigen auf die medizinische Waage. Sebastian strampelt und gluckst. Durch die Tür des Behandlungszimmers kommt ein Mann in Jeans und Hemd, graumelierte kurze Haare, Brille, um den Hals ein Stethoskop. Dr. Adnan Akbaba hebt das Kleinkind mit beiden Händen etwas hoch, Sebastian lacht. Es ist mittwochvormittags um halb elf, eine ganz normale Szene in einer ganz normalen Kinderarztpraxis. Aber dass sie im Hamburger Brennpunkt Steilshoop spielt, ist Akbaba zu verdanken. Er ist so etwas wie ein Arzt ohne Grenzen, nur im eigenen Land.
Aus allen Fenstern der Sechs-Zimmer-Praxis sieht man dasselbe: lange Reihen von grauen Hochhäusern, nur unterbrochen von roten, gelben und blauen Balkonen. In Steilshoop leben auf einem Quadratkilometer rund 20000 Menschen. Aber außer Akbaba arbeiten hier nur acht Ärzte. Macht einen pro 2144 Patienten, das ist der Durchschnitt von Südostasien, allerdings unter Einschluss von Klinikärzten dort. Indien und Pakistan haben mehr Ärzte pro Einwohner. Im Hamburger Nobelviertel Blankenese kommt ein Arzt auf 153 Patienten. Medizinisch ist Steilshoop das Myanmar Hamburgs. Und die Hochhaussiedlung ist kein Einzelfall: In vielen Brennpunkten deutscher Großstädte gibt es immer weniger Ärzte.
Trotz Sonderzulassung fand sich kein Arzt
Steilshoop hat keinen HNO-Arzt, keinen Hautarzt und hatte für sieben Monate auch keinen Kinder- und Jugendarzt mehr. Ende 2008 hatte der letzte im zentralen Ärztehaus dichtgemacht und war ins wohlhabende Poppenbüttel gezogen: Eine Praxis nur mit Kassenpatienten rechne sich einfach nicht mehr, es fehlten die lukrativeren Privatversicherten. 3800 Kinder waren ohne ortsnahe Versorgung. Die Kassenärztliche Vereinigung schrieb zwar eine Sonderzulassung für Steilshoop aus. Aber erst nach einem halben Jahr fand sich ein Mediziner.
Das ganze Behandlungszimmer leuchtet in Apfelgrün. Die frisch gestrichenen Wände lassen noch Platz für Bilder, ein paar Kinderzeichnungen auf kleinen Zetteln sind angeklebt. Es ist warm, damit Sebastian nicht friert. Vor ein paar Wochen hat er sich einen Virus eingefangen. Wenn er ausatmet, klingt es, als ob ein Hund knurrt. Seine Mutter Mandy guckt unsicher von ihrem Sohn zum Doktor. „Warum hat er das denn jetzt schon wieder?“ „Bei dem Virus ist es nicht ungewöhnlich, dass es länger dauert“, beruhigt Akbaba, „ich gebe Ihnen noch mal etwas zum Inhalieren.“ Er tippt ein Rezept in seinen Computer, dazwischen blickt er auf das Kleinkind. „Was isst Sebastian denn so?“ „Och, ziemlich viel. Und Brei mag er gern.“ Kurze Pause. Fast beiläufig sagt der Arzt: „Er sollte jetzt immer ganz normales Erwachsenenessen bekommen, Brei und Milch nur mal als Belohnung. Und die Vitamin D-Tabletten sind weiter wichtig. Haben Sie davon noch genug?“ Mandy V. nickt. Warum wohnt sie gerade hier? „Die Wohnungen sind billig, und es gibt viele Spielplätze für die Kinder. Die Hochhäuser, och, die stören mich nicht. Ich wohn’ gern in Steilshoop.“
Sebastian wird gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft. Empörtes Brüllen. Akbaba lächelt und zieht seelenruhig die nächste Spritze auf, Mandy V. schaukelt ihren Sohn. Der Besuch heute ist zugleich seine U 6, eine der empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen. Auch die ist in Steilshoop nicht selbstverständlich: Viele Eltern in ärmeren Vierteln nutzen sie nicht. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat deshalb eine Kampagne gestartet: „Ich geh zur U“. Sie richtet sich vor allem an Mütter wie Mandy V., die mit Mann und fünf Kindern von Hartz IV lebt.
„Ich weiß, dass die Untersuchungen wichtig sind“, sagt sie. „Aber wo sollten wir die denn machen lassen, als es hier keinen Kinderarzt gab?“ Mandy V. zieht ihren Sohn wieder an. „Die Praxen in den angrenzenden Vierteln hatten alle Aufnahmestopp.“ Bis sie einen gefunden hatte, war die Frist für die U 9 bei ihrer ältesten Tochter Janine vorbei.
Eigentlich gibt es in Hamburg genug niedergelassene Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin und auch für die meisten anderen Fachrichtungen. Aber weil die ganze Stadt als ein Bezirk gilt, dürfen sie sich niederlassen, wo sie wollen. Dadurch wird nicht nur Steilshoop zur Wüste: Im Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg praktizieren gerade mal zwei Ärzte für Psychiatrie oder Psychotherapie, im Akademikerviertel Eppendorf-Eimsbüttel 59, davon 13 nur für Privatpatienten. Wer die Ärzteverzeichnisse von Berlin, Köln, Bremen oder Duisburg durchforstet, stößt auf dasselbe Muster: In wohlhabenden Stadtteilen gibt es um ein Vielfaches mehr niedergelassene Ärzte als in armen, obwohl in armen Vierteln mehr Menschen wohnen. In Berlin-Marzahn praktizieren 19 Frauenärzte, im bürgerlichen Charlottenburg 64. Im Bremer Brennpunkt Osterholz sind 46 Ärzte niedergelassen, im Nobelviertel Schwachhausen 252.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sieht kein Problem. „Es ist zumutbar, zwei Stationen mit der S-Bahn zum Arzt zu fahren“, sagt Sprecher Roland Stahl: „In den meisten Städten gibt es ja genügend Ärzte. Und auf dem Land fahren die Leute doch auch, weil beispielsweise nicht immer alle Facharztrichtungen vor Ort zu finden sind.“
Zu ihm kommen die Kinder allein
Akbaba regt sich darüber nicht auf, er kennt diese Sätze. Der 43-Jährige blickt auf die Hochhäuser vor seinem Fenster, faltet die Hände und lächelt. „Steilshoop ist nicht auf dem Land“, sagt er, „das ist hier ein städtisches Ballungsgebiet. Und machen wir uns doch nichts vor: Viele Eltern fahren nicht woanders hin.“ Manche schaffen es noch nicht einmal bis zum Ärztehaus, sondern schicken ihre Kinder alleine. „Wir haben jede Woche kranke Neun-, Zehn-, Elfjährige, die ohne Eltern kommen.“ Dann telefoniert Akbaba erstmal hinterher, bis er Mutter oder Vater erreicht. Der Arzt schüttelt den Kopf und sagt ruhig, aber bestimmt: „Diese Kinder können nicht mit der S-Bahn zum Arzt fahren.“ Ganz zu schweigen von Hausbesuchen bei schwer kranken oder behinderten kleinen Patienten.
Für den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ist klar: „Auch arme Eltern haben ein Recht auf einen Arzt in ihrer Nähe.“ Die S-Bahn-Idee verlagere das Problem nur in die angrenzenden Stadtteile, „und dann sind die Praxen dort überlaufen“, sagt Sprecher Dr. Ulrich Fegeler, selbst Kinder- und Jugendarzt in Berlin.
Mandy V. und Sebastian sollen nächste Woche wiederkommen, um zu kontrollieren, ob der Husten besser geworden ist. Geld bekommt Akbaba dann dafür nicht. Auch deshalb verdienen Ärzte in ärmeren Vierteln weniger: Die Eltern gehen viel öfter im Quartal mit ihren Kindern zum Arzt, „manchmal nur wegen eines leichten Schnupfens“. Trotzdem, klagen will Akbaba nicht. „Man verdient weniger hier. Aber man verhungert nicht.“ Erst auf Nachfrage findet er, ein gewisser Belastungszuschlag, „ja, der wäre schon gerecht”. Der BVKJ befürwortet eine höhere Pauschale pro Patient.
Die fordert auch Bärbel Bas. Sie ist SPD-Bundestagsabgeordnete für Duisburg, und auch dort gibt es im armen Stadtteil Hochfeld keinen Kinderarzt mehr, in anderen fehlen sogar Hausärzte. „Das Problem ist politisch gemacht“, sagt sie: Durch die unterschiedliche Honorierung für Kassen- und Privatpatienten und durch zu große Zulassungsbezirke. „Die Kassenärztlichen Vereinigungen dürfen sich hier nicht aus ihrer Verantwortung stehlen.“ Schließlich gehe es um Stadtteile mit besonders vielen Kindern. Die, weiß Akbaba, auch noch besonders oft krank sind. Zum Teil liegt das an Fehlern der Eltern, etwa wenn der Vater im Auto raucht, mit seinem asthmakranken Kind auf dem Rücksitz. Manche leben aber auch in gefährlich schimmeligen Wohnungen. Dann schreibt Akbaba ein Attest, mit dem die Familie beim Wohnungsamt einen Dringlichkeitsschein beantragen kann.
In Steilshoop kann er die Gesellschaft verändern
Aber in Steilshoop geht es noch um mehr als um Impfungen und Hustenmittel. „Diese Kinder brauchen uns, aber wir brauchen auch diese Kinder“, sagt Akbaba. „Wir haben schon heute zu wenige Fachkräfte, und hier wächst ein riesiges Potenzial heran.“ Um es zu fördern, brauchen die Steilshooper Eltern Unterstützung – und auch mal einen, der ihnen die Leviten liest. „Das kann ein Arzt manchmal eher als die Kindergärtnerin“, weiß Akbaba, „aber nur, wenn er vor Ort ist und die Familien kennt”.
Etwa einmal pro Woche fällt dem Mediziner ein Kind auf, das verwahrlost wirkt: zu dünn ist, keine richtige Kleidung hat oder lange nicht gewaschen wurde. Dann versucht er die Eltern zu überzeugen, zum Sozialen Dienst zu gehen. Auf ihrem Rückweg durchs Treppenhaus kommen sie zwei Stockwerke tiefer sowieso daran vorbei. „Je leichter das alles erreichbar ist, desto besser sind die Chancen, dass die Familie Hilfe bekommt.“ Und dass das Kind vielleicht später einen Abschluss und eine Ausbildung schafft. „Das alles kann ich in Poppenbüttel nicht leisten. Dort wäre ich nur Arzt. Hier kann ich die Gesellschaft verändern.“
Zum Abschied drückt Akbaba Mandy V. noch eine weiße Baumwolltasche in die Hand. „Kinder lieben Bücher“, steht darauf. Die Stadt Hamburg schenkt Sebastian zwei Bilderbücher und eine Jahresmitgliedschaft für die örtliche Bücherhalle, die schon von Schließung bedroht war. Mandy V. packt die Tasche in die Kinderkarre. „Meine älteste Tochter ist schon in der ersten, die liest auch mal.“ Aber sie selbst komme nicht zum Vorlesen, „bei den fünfen, da hab ich einfach die Zeit nicht.“ Im nächsten Monat, das möchte sie noch sagen, fängt sie wieder an zu arbeiten, als Küchenhilfe.
Als Mandy V. mit Sebastian in der Karre aus der Tür schiebt, steht am Tresen schon Iris S. mit ihrem Sohn Joshua, vier. „Er hat seit gestern Abend Ohrenschmerzen und jetzt auch noch 38,2 Temperatur“, sagt sie. Der kleine Junge ist blass und müde. Akbaba nimmt die beiden gleich mit ins Behandlungszimmer. Joshua zieht seinen Pullover hoch und atmet eifrig ein, damit Akbaba ihn abhören kann. Iris S. streicht ihm über den Kopf.„Gleich geschafft, Puschel.“ Sie ist alleinerziehend und macht eine Ausbildung zur Erzieherin, hat heute früher Schluss gemacht, um herzukommen. Die 30-Jährige ist in Steilshoop aufgewachsen, aber heute lebt sie nicht mehr gern hier. „Hier gibt es einige Jugendliche, die abhängen, Unsinn anstellen oder Probleme mit Drogen haben. Ich wohne nur noch hier, weil meine Mutter mir mit Joshua helfen kann.“ Sobald sie mit ihrer Ausbildung fertig ist und Geld verdient, will sie von hier weg: „Ich möchte nicht, dass mein Kind in Steilshoop aufwächst.“
Akbaba kennt ihre Situation: Seine Mutter war auch alleinerziehend, kam als türkische Gastarbeiterin aus dem Nordosten der Türkei nach Deutschland, arbeitete erst in der Fabrik, dann als Putzfrau. Schon in der Grundschule beschloss Adnan, dass er einmal studieren will. „Ich habe gesehen, wie hart meine Mutter für das bisschen Geld geschuftet hat.“ Und dass es Schulkameraden gab, die einen eigenen Garten zum Spielen hatten. Heute haben Akbabas drei Kinder auch einen.
An der Wand hinter seinem Sessel im Sprechzimmer hängt ein gerahmtes Ölbild: das Goldene Horn in Istanbul mit der Süleymaniye-Moschee. Dass er selbst Moslem ist, ist Akbabas wichtigstes Argument gegenüber muslimischen Eltern. Etwa, wenn sie ihre Tochter nicht mit auf Klassenreise lassen wollen. Darüber kann sich der Arzt dann doch aufregen. „Wir können nicht hinnehmen, dass diese Mädchen keine Chance bekommen.“ Er versucht den Eltern zu erklären, dass die Schule in Deutschland wie ein Wettlauf ist: „Wenn Ihre Tochter eine Woche Klassenreise verpasst, sind die anderen ihr voraus.“
Vor Jahren hat er in Wilhelmsburg eine türkische Mutter überzeugt, ihre Elfjährige an allem teilnehmen zu lassen. Das Mädchen blühte sichtbar auf. Vor kurzem hat er sie wiedergetroffen: Die junge Frau hatte einen guten Abschluss und eine Banklehre geschafft. „Wenn ich das nur bei einem von hundert Kindern in Steilshoop erreiche“, sagt der Arzt, „dann lohnt es sich”.
Mehr Ärzte für Arme
Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) hat verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, um den allgemeinen Ärztemangel in Deutschland zu beheben, unter anderem eine flexiblere örtliche Zulassung. Diese soll aber vorrangig den Ärztemangel auf dem Land ausgleichen. Verantwortlich für die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung sind in Deutschland die Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder, kurz KVs genannt. Sie vergeben die Zulassungen und verteilen die Honorare, die Ärzte für Kassenpatienten bekommen. Für jeden Patienten gibt es pro Quartal einen Betrag, egal wie oft der Patient kommt. Privatpatienten können die Mediziner hingegen pro Behandlung und weitaus teurer abrechnen. Kinderärzte in Brennpunkten verdienen dadurch bis zu 40 Prozent weniger. Wie lassen sich die Praxen in Ballungszentren dennoch gleichmäßiger verteilen?
Lösung 1: Die Zulassungen werden lokal nach Stadtvierteln vergeben.
Lösung 2: Ärzte in Brennpunkten erhalten einen Belastungszuschlag.
Lösung 3: Die Honorare für Privat- und Kassenpatienten werden angeglichen.
Lösung 4: Die Honorare für Kassenpatienten werden insgesamt angehoben.
Lösung 5: Die Kommunen oder Krankenkassen eröffnen in unterversorgten Gebieten selbst Praxen und stellen dort Ärzte an.
Auf dem Land können derzeit nicht einmal alle Zulassungen pro Bezirk und auch nicht alle Stellen in Kliniken besetzt werden. Thüringen wirbt deshalb gezielt Ärzte aus Österreich an und versucht mit Startprämien und Honorargarantien, den Nachwuchs zu locken, in Sachsen halten polnische Ärzte den Stationsbetrieb aufrecht.