Der innere Frieden

Stefan Schreiber (Hrsg.), Andreas Labes: 100 Jahre Leben – Porträts und Einsichten | Mit 102 Jahren fliegt Edith Wolffberg von Texas nach Berlin, um ihre Geburtsstadt noch einmal zu sehen. Die Jüdin, die 1939 über Bolivien in die USA emigrieren musste, sagt rückblickend: „Es hat mir immer dort gefallen, wo ich gerade war. Man muss das Beste aus jeder Situation machen.“ Edith Wolffberg ist eine von hundert Hochbetagten, die der Fotograf Andreas Labes für diesen Bildband porträtiert und befragt hat.In den biografischen Skizzen klingt der Grundton einer Generation an: „Das Leben nehmen wie es ist.“ So haben die heute Hundertjährigen Krieg, Flucht und Hunger überlebt. Manches wirkt aus heutiger Sicht antiquiert: Die Bäuerin, die nie Urlaub gemacht hat. Oder der Schlosser, der fast fünfzig Jahre im selben Betrieb arbeitete. Eine Biografie, wie die von Rosl Persson erscheint da fast schon verwegen: Mit 86 Jahren steigt die Artistin, die als junge Frau durch Europa tourte, zum letzten Mal auf einen Viertausender. Die ganzseitigen Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen die Falten, die Altersflecken, die Tränensäcke und Hörgeräte. Doch obwohl Labes fast immer die Nahaufnahme wählt, fotografiert er nicht nur die unabänderlichen Spuren des Alters. Sondern vor allem wache, lebenskluge Augen – ein Erinnerungsspeicher des vergangenen Jahrhunderts. Der Herausgeber und Mediziner Stefan Schreiber ergänzt den Band um Perspektiven der Alternsforschung. Verglichen mit den vielfältigen Lebenserfahrungen der Porträtierten wirken die Ergebnisse ziemlich mager: Langlebigkeit ist Frauensache – sie stellen 85 Prozent der Hundertjährigen. Auch scheint es eine körperliche Disposition für hohes Alter zu geben. Hier spielen vor allem Gene eine Rolle, die den Cholesterinstoffwechsel positiv beeinflussen und freie Radikale früh abfangen. Aber nicht nur biologische Parameter sind dafür verantwortlich, wie ein Mensch altert. Wer alten Menschen nichts mehr zutraut und sie schont, tut ihnen damit keinen Gefallen. Gerade alltägliche Arbeiten verlangsamen den Alterungsprozess.

Einen anderen Faktor bringt Harald Timm ins Spiel. Mit seinen 105 Jahren ist er Experte: „Wichtig ist der innere Frieden, den muss man suchen. Wenn man ihn gefunden hat, kann er das Leben verlängern.“ Ursula Härtling

BILDBAND, DVA 2010, 184 SEITEN, 29,95 €


Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo | Wie in einem Zerrspiegel kann man in einem Text von 1930 unsere heutigen Jobcenter erblicken. Die „Arbeitsnachweise“ genannten Ämter schilderte Siegfried Kracauer als „eine Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbstätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heut’ stark verstopft.“ Und auch das ist noch aktuell: „Mir ist nicht eine Örtlichkeit bekannt, in der das Warten so demoralisierend wäre.“ Die neu herausgegebene, erstmals ungekürzte und mit einem hilfreichen Nachwort versehene Sammlung von Feuilletons zeigt den späteren Emigranten Kracauer als einen hellsichtigen Beobachter des Vorkriegsalltags. Es ist faszinierend, wie wir auch kommendes Unheil „herauslesen“ können, etwa im Text über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Gleichsam in einer Vision ihrer Zerstörung wird sie zum „Hort des Vergossenen und Vergessenen“. klix

BIBLIOTHEK SUHRKAMP, FRANKFURT, 2009, 268 SEITEN, 15,80 €


Jean-Michel Beuriot & Philippe Richelle: Unter dem Hakenkreuz | Deutschland, 1932: Der junge Martin steht vor dem Abitur und verliebt sich in die jüdische Nachbarstochter Katharina. Bald bekommen beide die politischen Auseinandersetzungen jener Zeit zu spüren, denn die sich ausbreitende nationalsozialistische Ideologie trifft nicht nur auf einen bei der Bevölkerung vorherrschenden Nationalstolz, sondern auch auf ausgeprägten Antisemitismus. Amours Fragiles, so der Originaltitel der französischen Comic-Reihe, handelt aber in erster Linie von zerbrechlichen Liebesbeziehungen. Blickt der erste Band noch mehr auf die politischen Aspekte, befasst sich der zweite Teil Ein Sommer in Paris, in dem Martin seiner Katharina nach Frankreich folgt, stärker mit den Beziehungen der Hauptfiguren. Ein dritter Teil dieser fein und anspruchsvoll gezeichneten Erzählung in dezenter Farbgebung ist bereits angekündigt. rist

GRAPHIC NOVEL, VERLAG SCHREIBER & LESER 2010, 56 SEITEN, 18,80 €


Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt | Günter Wallraff tut, was er seit seinem 20. Lebensjahr tut: Er verkleidet sich, wird zu einer anderen Person und taucht ein in die Welt, hauptsächlich in die bundesdeutsche Arbeitswelt. Und um die muss man sich sorgen. Dank Wallraff und seiner Methode werden in Deutschland die größten, aber auch die kleinen Schweinereien in der Welt der Arbeit irgendwann aufgedeckt, sei es in diesem Buch bei Callcentern oder Großbäckereien oder in seinem Bestseller „Der Aufmacher“ bei der BILD-Zeitung. Behoben sind sie dann damit leider längst noch nicht, aber ein Wendepunkt ist erreicht. Für sein neues Buch hat sich Günter Wallraff dieses Mal auch in die Welt da draußen begeben, als Schwarzer unter Weiße und als Obdachloser auf die Straße. Für seine Verwandlung zum Farbigen wurde er vielfach kritisiert, dabei öffnet gerade sie uns die Augen für unsere schöne rassistische neue Welt. pewe

KIEPENHEUER & WITSCH VERLAG, KÖLN, 2009, 325 SEITEN, 13,95 €