Was die Stadt zusammenhält

Links: Protest gegen die Schließung vor dem Wuppertaler Schauspielhaus. Mitte: Die Schwebebahn schwebt gerade über die kleine Elberfelder Fussgängerbrücke Bismarcksteg (1905). Rechts: Der Gymnasiast Max Guder engagiert sich in der Politik und in gemeinnützigen Organisationen

VON Heide Platen (TEXT) UND Stefan Pangritz (FOTOS)

Fast alle, die über Wuppertal reden, sprechen nur noch vom HSK. Als würden die drei Buchstaben sichtbar am Himmel über Wuppertal schweben, das ganze lange, enge Flusstal entlang, über die Hänge der Hardt hinauf, über Kirchtürmen und stillgelegten Fabrikschloten. HSK steht für Haushaltssicherungkonzept. Mit dem 13 Seiten langen Papier hat Oberbürgermeister Peter Jung, CDU, im November 2009 bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Seither stirbt Wuppertal, nur eine von zahlreichen Kommunen mit einem Nothaushalt, stellvertretend immer wieder den Medientod. Grau, trist, marode, verfallende Konkursmasse - so ist es in den Zeitungen zu lesen. Wuppertals Hauptbahnhof ist tatsächlich eine deprimierende Angelegenheit, das Entree aber wohl auch nicht trister als in Bonn, Offenbach oder anderswo - Beton bis zum Abwinken.

Wuppertal, rund 350 000 Einwohner, ist ein künstlicher Zusammenschluss der kreisfreien Städte Barmen, Elberfeld und mehrerer kleinerer Orte, dem die Bürger 1929 zustimmten. Richtig zusammengewachsen sind die früher eigenständigen Orte aber nie. Das birgt Konfliktpotential. Umso erstaunlicher, dass der Nothaushalt die Bewohner der Stadt nicht auseinander dividiert, sondern in den letzten Monaten näher zusammengebracht hat: Geschlossen werden sollen das Schauspielhaus, drei Frei- und zwei Hallenbäder, Bibliotheken, rabiat gekürzt werden sollen Mittel im Sozialbereich, Gebühren aller Art drastisch erhöht, die Straßenbeleuchtung soll vermindert werden.

Öffentlichkeitsreferentin Martina Eckermann steht im immer noch stattlichen Rathaus wie ein Fels vor ihrem Oberbürgermeister. Man könne, sagt sie, "eine Stadt auch kaputt schreiben". Außerdem gehe es nicht an, dass das "Anspruchsdenken der Bürger" Vorrang habe: "Es muss nicht jeder Stadtteil sein eigenes Schwimmbad haben." Im Übrigen sei die Schwebebahn, Wahrzeichen und Hauptverkehrsader der Stadt, nicht wegen Geldmangels geschlossen, sondern nur instandgesetzt worden. Seit April fahre sie ja wieder, 13,3 Kilometer auf ihren hohen eisernen Stelzen über der Wupper. Das Tanztheater Pina Bausch gebe es auch noch. Und dann seien da noch die Stadthalle, das Sinfonieorchester und der wunderbare Zoo, rundum erneuert und ein hervorragendes Beispiel für Bürgersinn und Mäzenatentum. Im März wurde die neue Pinguinanlage mit dem begehbaren Unterwassertunnel mit großem Bohei eingeweiht. Die Anlage allerdings, wird hinter der Hand erzählt, sei für den Spender eher zweite Wahl gewesen. Er habe der Stadt eigentlich ein Haus für den Spielbetrieb des Theaters zur Verfügung stellen wollen. Der Oberbürgermeister habe die milde Gabe abgelehnt, weil sie laufende Kosten verursacht hätte. Der freigiebige Mann habe sein Geld dann eben dem Zoo vermacht.

Oben: Die Jakobstreppe ist seit Jahren gesperrt. Unten: Die Schwebebahn prägt das enge Flussbett der Wupper

Aber nun wurde eben jenes Sprechtheater zum Dreh- und Angelpunkt des Widerstandes. Intendant Christian von Treskow war 2009 mit dem Versprechen in die Stadt geholt worden, dass er in einigen Jahren eine frisch renovierte Spielstätte übernehmen könne. Bis dahin sollte er sich laut Ratsbeschluss mit Opernchef Johannes Weigand dessen Haus teilen. Inzwischen ist das Theaterhaus geschlossen, eine Renovierung steht nicht mehr auf dem Spielplan der Kommune. Von Treskow muss sich die Oper weiter mit Weigand teilen. Aus der Zeitung erfuhr er, dass für ihn 2012 ganz Schluss sein soll. Immerhin werde es keine betriebsbedingten Kündigungen geben, so steht es im HSK.

An den Nagel gehängt

Der Betriebsratsvorsitzende des Theaters, Holger Springorum (44), sitzt zwischen Requisiten in der Oper und sagt, das sei kein Kunststück. Das künstlerische Personal habe ohnehin nur befristete Verträge. Und die brauchen nicht gekündigt zu werden, weil sie von allein auslaufen. Das hieße, die Künstler gehen, nur die fest Angestellten aus der ohnehin unterbesetzten Technik und Verwaltung bleiben. Dabei, so Springorum, hätten Schauspiel und Oper gemeinsam sogar gespart, kleine Rücklagen für schlechtere Zeiten gebildet. Diese habe der Stadtkämmerer "einfach einkassiert", weil städtische Betriebe wegen des Nothaushaltes keine eigenen Gewinne mehr machen dürfen: "Wir haben wirklich getan, was wir können, und werden jetzt richtig an die Wand genagelt." Es gehe nicht mehr nur darum, das marode Theaterhaus zu schließen, sondern darum, dass "die ganze Sparte" aufgegeben werden solle. Und deshalb sei Wuppertal jetzt, so Springorum, "in ganz Deutschland ein Aushängeschild" für schlechte Werbung.

Die Wuppertaler aber zeichnen sich, sagt er, durch "Sturheit" aus. Sie sind auf den Beinen und demonstrieren regelmäßig, um in ihrer Stadt zu erhalten, was erhaltenswert ist. 5000 Menschen bildeten im April eine Kette zwischen Opernhaus und Theater, 36000 Unterschriften wurden gesammelt, es gab Solidaritätserklärungen, Aktionen, der Welttheatertag war ein Welterfolg. "Man hat versucht", so Springorum, nicht nur die Ortsteile gegeneinander, sondern auch "die Kultur gegen Soziales auszuspielen". Das sei, Barmen hin, Elberfeld her, gründlich misslungen. So ist nur anfangs verblüffend, dass Kulturschaffende immer zuerst auf die Notwendigkeit von Freibädern und sozialen Einrichtungen verweisen und ihre genuinen Konkurrenten um die kargen Steuergroschen im Stadtsäckel ganz besonders die Notwenigkeit der Kultur betonen.

Das sei auch dem größten Bündnis der Stadt zu verdanken, sagt Springorum. Es heißt "Wuppertal wehrt sich". Vereine, Verbände, Einzelpersonen haben sich partei- und interessenübergreifend zusammengeschlossen und kämpfen, den Ausgang der Landtagswahl ignorierend, gegen die Zerstörung ihrer Infrastruktur. Sie dreschen ganz bewusst nicht auf ihren Oberbürgermeister, sondern auf das Land und den Bund ein. Das mache sie zwar punktuell "relativ kraftlos", habe aber erreicht, dass jetzt endlich die Diskussion über ein bisher völlig fehlendes Zukunftskonzept begonnen werden könne. Die Stadt brauche ihr Theater, weil es zum einen durch die Darsteller Identifikation biete, zum anderen bei jungen Leuten eher Anklang finde als die Oper.

Der Kitt der Gesellschaft

Gaby Schulten (53) ist im Organisationsteam von "Wuppertal wehrt sich", eine praktische, zupackende Person mit dunkelgrauen, kurzen Locken. Sie sitzt in ihrem kleinen Büro im Erdgeschoss in der Zimmerstraße in der Nordstadt, am anderen Ende des langen, engen Flusstals. Ganze Gründerzeitviertel sind hier noch erhalten, zeugen vom einstigen mehr oder weniger bescheidenen Wohlstand der ehemaligen Textilstadt. Deren Niedergang begann schon im vorigen Jahrhundert. Sie kennt die Bedürfnisse im Viertel und versucht, die leerstehenden Läden und Häuser mit Zwischennutzungskonzepten wiederzubeleben: "Leerstand führt ganz schnell zu Verwahrlosung und Ödnis."

Viele der Bewohner kamen als Arbeiter aus Anatolien hierher. Die Arbeitslosenquote liegt bei 12,1 Prozent. Vom HSK sei hier fast jeder betroffen: "Die Menschen brauchen ihre Schwimmbäder, weil sie kein Geld haben, um im Urlaub wegzufahren." Und sie brauchen Kultur, "denn die ist der Kitt der Gesellschaft". Dass Wuppertal auf Anweisung des Regierungspräsidenten aus dem Städteförderungsprogramm ausgeschlossen wurde, weil der 25-prozentige Eigenanteil nur kreditfinanziert aufzubringen gewesen wäre, schmerzt Gaby Schulten besonders, denn nun fehlt das Geld für die Sanierung maroder Straßenzüge. "Wieso", fragt sie, "dürfen wir dafür keine Kredite aufnehmen? Die Solidaritätsabgabe Ost finanzieren wir doch auch so." Für sie sitzen die Gegner eindeutig in der Landeshauptstadt Düsseldorf und in Berlin: "Die wissen nicht, wie es in den Städten aussieht. Die haben nicht mal ein Problembewusstsein." Die Kommunen müssten immer mehr Aufgaben übernehmen, erhielten dafür aber immer weniger Geld: "Alle, die behaupten, der grundgesetzlich verankerte Finanzausgleich werde noch eingehalten, die lügen schlichtweg."

Links: Holger Springorum, Betriebsratsvorsitzender am Theater. Mitte: Das Freibad Mirke bereitet sich auf seine letzte Saison vor. Rechts: Gaby Schulten vom Bündnis „Wuppertal wehrt sich“

Es lebe das Theater

Die Pleite sei zwar absehbar gewesen, aber nicht hausgemacht, und nun sei es "müßig, zu fragen, wer schuld ist". Sparen sei der falsche Weg, denn mit der geplanten Summe von vorerst 80 Millionen Euro könnten nicht einmal mehr die Zinsen der Kredite finanziert werden: "Das Loch wird immer größer." "Warum", fragt Schulten anders herum, "bekommen Banken und Industrieunternehmen Geld hinterher geworfen, während die Kommunen darben"? Aber eigentlich sei auch "nicht alles nur Grau in Grau" in der Stadt: "Wir engagieren uns. Die Wuppertaler haben so eine Beharrlichkeit, die allen Widrigkeiten trotzt."

Vor dem Opernhaus hat das Geld noch für akkurate Stiefmütterchenrabatten gereicht, im Haus werden noch die Flure geputzt. In Johannes Weigands Büro herrscht Sachlichkeit. Dekor ist nur ein altes, riesiges Blasinstrument auf dem Schrank. Die beiden Intendanten, die sich notgedrungen das Gebäude an der Friedrich-Engels-Allee teilen, wirken wie ein eingespieltes Team, zum Sturm blasen sie noch nicht. Beide tragen Schwarz und Anthrazit. Von Treskow, schlank, wirkt ruhig, souverän, Weigand eher temperamentvoll und emotional. "Die Gemeinsamkeiten", sagt er, seien "ein großes Glück". Deutsches Stadttheater habe die Funktion, "für, mit und in seiner Stadt" Identität zu stiften: "Wir glauben, dass wir einen Bildungsauftrag haben." Theater und Oper bedingten sich gegenseitig, seien gerade für junge Leute "eine großartige Übung für die Wirklichkeit", für Gefühle, dafür, "dass man das, was man hoffentlich nicht erlebt, doch durchlebt". Von Treskow übt sich in Gelassenheit. Immer wieder sei das Theater totgesagt, als Luxus "ins Wolkenkuckucksheim gedrängt" worden. Deutschland, arm an natürlichen Ressourcen, brauche die Kreativität und müsse sie pflegen: "Theater befreit die Köpfe!" Weigand ergänzt: "Und die Herzen!"

Böse Zungen unterstellen derzeit Oberbürgermeister Jung, dass er das Theater opfere, weil er als Opernfreund das Haus für seine "High Society" erhalten wolle. Er selbst ist überzeugt, dass den Kommunen nur dann geholfen werde, wenn sie selbst Hand anlegen. Das heißt: "Sparen, wo wir können!" Zudem setzt er auf Bürgersinn, "höhere Eintrittspreise und Nutzungsentgelte" und darauf, dass die Bundesregierung die Kommunen bei den Kosten für Hartz IV entlasten müsse, und hofft auf Hilfe der Landesregierung zur Tilgung der Altschulden. Das jedenfalls gab er unlängst in einem Zeitungsinterview zu Protokoll.

Das Tau der Jugend

Max Guder (18) sitzt gerne in Milia's Coffee, einem Jugendtreffpunkt am Kirchplatz, mit Kaffee in allen Variationen. Er trinkt einen mit Pfefferminzschaum. Sein Kurzhaarschnitt ist nur leicht gegelt. Wenn er nachdenkt, legt er die Stirn in ernste Falten. Die Buttons auf seiner schwarzen Windjacke heißen "Freude" und "Respekt" und, selbstverständlich, "Nicht Rüttgers wählen". Der Gymnasiast kümmert sich um eine Mittagstafel für arme Kinder, singt im Chor Wuppertaler Kurrende, ist im Schülerparlament und streitet als Juso für die SPD. Wuppertal, sagt er, sei nicht das Tal der Tränen: "Man hat ja oft den Eindruck, dass sei eine furchtbare Stadt, nicht lebenswert, keine Zukunft, keine Szene, keine Jugend." Aber: "Es wird ausgiebig gefeiert." Derzeit sei eher Elberfeld angesagt als Barmen, dort seien die besseren Läden und Clubs. Aber das trenne die einen von den anderen nicht: "Das nächste, was der Elberfelder hat, ist doch Barmen." Für die Jugend gelte: "Wir halten ein gemeinsames Tau, an dem gezogen wird." Das Haushaltsloch sei eigentlich "eine Summe seiner Teile" und bestimmt nicht durch rigorose Streichungen zu stopfen: "Bund und Land haben die Städte systematisch ausgeblutet." Wenn das HSK in Gänze umgesetzt werde, habe der Oberbürgermeister seine Wahlversprechen gebrochen: "Freisparen nützt nichts, wenn die Infrastruktur weg ist." Wenn Eltern in andere Orte ziehen, weil die Kita-Gebühren steigen, Studenten fortbleiben, weil es keine Bibliotheken und "nichts mehr zu feiern gibt", dann werde die ohnehin sinkende Einwohnerzahl ganz bestimmt nicht steigen.

Links: In der Elberfelder Nordstadt, auch genannt Ölberg. Mitte: In dem Wohnquartier Rott hält seit 1991 kein Zug mehr. Rechts: Die neue, weltweit einmalige Pinguinanlage im Zoo

Max Guder stellt fest, dass sich die jungen Leute in Wuppertal gerade jetzt enger zusammenschließen, die Jugendorganisationen wieder wachsen: "Sogar Kinder geben ihr Taschengeld für die Kindertafel." Wenn die geschlossen werden müsse, sei das unverantwortlich: "Es ist doch schon ein Armutszeugnis, dass es sie überhaupt geben muss!"

Die Herkunft der Redewendung, dass etwas, das den Bach herunter auch über die Wupper gehe, hat verschiedene Deutungen. Eine nimmt an, dass, wer immer in Insolvenz ging, über eine Brücke zum Amtsgericht auf einer Insel im Fluss gehen musste. Eine andere meint, die Richtstätte für zum Tode Verurteilte habe nur durch die Flussüberquerung erreicht werden können. Was auch immer in Wuppertal zukünftig über die Wupper gehen wird, in der Stadt sind sich alle einig, dass sich die Steuerpolitik von Bund und Ländern zugunsten der Kommunen ändern müsse.

Optimisten jedenfalls gibt es genug in in der Stadt: Am Alten Markt in der Nähe des Rathauses und ganz nahe der Wupper hat ein Optiker seinen Laden die "Rosa Brille" genannt.

Es war einmal in Wuppertal

Wuppertal hat 1,8 Milliarden Euro Schulden. Das Haushaltssicherungskonzept (HSK) sieht bis 2014 Einsparungen von 216 Millionen Euro vor. Von Schließung bedroht sind das Schauspielhaus, drei Frei- und zwei Hallenbäder, zwei Stadtbibliotheken. Zuschüsse für Obdachlosenhilfe, Drogenprävention, Jugendarbeit, Stadtteilinitiativen werden gestrichen oder drastisch gekürzt. Hundesteuer, Kindergarten- und Parkgebühren sollen erhöht, Straßenbeleuchtung soll eingespart werden.