DIERK HIRSCHEL ist Wirtschaftsexperte bei ver.di

Auf dem alten Kontinent schnüren die Kassenwarte eifrig Sparpakete. Dabei konkurrieren Athen und Dublin um den Titel des Spar-Europameisters. Die tapferen Griechen wollen in den nächsten zwei Jahren 17 Milliarden Euro einsparen. Und in Irland soll das Haushaltsdefizit um sieben Milliarden Euro schrumpfen. Das entspricht jeweils stolzen sieben Prozent der Wirtschaftsleistung beider Länder. Auf den weiteren Plätzen folgen Lissabon und Madrid. Dort bringt das Sparpaket fünf bis sechs Prozent des Sozialprodukts auf die Waage. Paris, Rom und Berlin wollen zwei bis drei Prozent kürzen.

Gespart wird trotz Krise. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser wirtschaftspolitischen Geisterfahrt sind groß. Die leichte wirtschaft- liche Erholung hängt aktuell an den staatlichen Konjunkturhilfen und am Ausland. Die Unternehmen und Verbraucher investieren und konsumieren zu wenig, um einen selbsttragenden Aufschwung einzuleiten. Wenn die EU-Finanzminister jetzt Investitionen und Sozialausgaben kürzen, dann droht ein erneuter Absturz.

Ein Staatshaushalt ist kein Privathaushalt. Schrumpfende Staatsausgaben drosseln auch die Unternehmensgewinne. Handwerk und Bau erhalten weniger öffentliche Aufträge. Beschäftigte, Arbeitslose und Bedürftige kaufen weniger. Der Nachfragemangel verschärft sich. In der Krise wirken Sparpakete als Wachstumsbremse.

Professionelle Zukunftsdeuter kalkulieren bereits die Kosten der Geisterfahrt: Laut Goldman-Sachs verliert Athen durch die Sparpolitik allein dieses Jahr 1,0 Prozent Wirtschaftswachstum. In Spanien und Portugal drücken die Kürzungen das heimische Wachstum um rund 0,5 Prozent. Die südeuropäischen Volkswirtschaften schrumpften aber schon, bevor ihre Schatzmeister den Hahn zudrehten. Folglich droht ihnen jetzt eine langjährige Rezession. Am Ende des Tages versinken Madrid, Lissabon und Athen Dank ihrer Sparpolitik im Schuldenmeer. Aber auch hierzulande bedroht Merkels 80 Milliarden Euro schwerer Sparhammer das zukünftige Wachstum. Die geplanten Haushaltskürzungen beschneiden es allein im nächsten Jahr um voraussichtlich 0,5 bis 1,0 Prozent.

Doch damit nicht genug. Da alle gleichzeitig sparen, dreht sich die Abwärtsspirale immer weiter. Die überwiegende Mehrheit der Exporte aus EU-Mitgliedsstaaten überschreitet nicht die Grenzen des alten Kontinents. Allein Deutschland exportiert rund 100 Milliarden Euro in den europäischen Süden. Wenn aber am Mittelmeer alle Räder stillstehen, trifft das auch die deutsche Exportindustrie. Und wenn der deutsche und französische Binnenmarkt dauerhaft lahmen, dann kann Südeuropa nicht durch steigende Exporterlöse gesunden.

Kurzum: Die Sparorgie droht Europa in eine Deflationsgemeinschaft zu verwandeln. Fallende Löhne und Preise würden dann zu weniger Wachstum und Steuereinnahmen sowie steigender Arbeitslosigkeit und wachsenden Schulden führen.

Soweit darf es nicht kommen. Europa kann aus seinen nationalen Schuldenbergen nur herauswachsen. Deswegen darf in der Krise nicht der Rotstift angesetzt werden. Im Gegenteil: Europa muss ein Wachstumspol der Weltwirtschaft werden. Dafür muss die öffentliche Hand kräftig in Bildung, Gesundheit, Umwelt und Infrastruktur investieren. Kurzfristig können diese Zukunftsinvestitionen schuldenfinanziert werden. Mittelfristig bedarf es höherer Steuern. Die verteilungspolitischen Folgen sind ausdrücklich erwünscht. Schließlich hat die ökonomische Ungleichheit in Europa dramatisch zugenommen. Beispiel Deutschland: Das acht Billionen Euro schwere private Nettovermögen der Republik ist heute fünfmal so groß wie der öffentliche Schuldenberg. Das reichste Zehntel besitzt über 60 Prozent dieses Vermögens.

Höhere Steuern auf große Einkommen und Vermögen sind auch ökonomisch sinnvoll. Wenn Reiche mehr Steuern zahlen, dann konsumieren und investieren sie keinen Cent weniger. Sie häufen lediglich weniger an. Das schadet nur den Umsätzen im Casino. Aus diesem Grund müssen Vermögensbesitzer und Erben künftig wieder mehr Steuern zahlen. Darüber hinaus kann die staatliche Einnahmeseite durch einen höheren Spitzensteuersatz, höhere Unternehmenssteuern und eine Finanztransaktionsteuer zusätzlich gestärkt werden.

Höhere Steuern werden das scheue Reh nicht außer Landes treiben. Aus dem internationalen Steuersenkungs- ist inzwischen ein Steuererhöhungswettlauf geworden. Viele Nachbarn erhöhten in der Finanzkrise ihre Steuern. Die ökonomisch schädliche und sozial ungerechnete Sparpolitik ist also nicht ohne Alternativen. Europa muss sich jetzt entscheiden: Entweder investieren wir in die Zukunft - oder wir sparen die Zukunft kaputt.

Fallende Löhne und Preise führen zu weniger Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit und mehr Schulden