Das ganze Bild vor Augen

Patrice: One | Die beiden berühmtesten Söhne des kleinen rheinischen Städtchens Kerpen verbindet nicht vieles, aber dieser Tage doch zumindest eines: Sie weigern sich, die Erwartungen der Öffentlichkeit zu erfüllen. Michael Schumacher fährt in seinem Formel-1-Auto hinterher und Patrice verbannt auf seinem neuen Album One den Reggae endgültig in die zweite Reihe.Das eine wie das andere liegt wohl am Alter. Die Jüngeren fahren schneller. Und auch Patrice Babatunde Bart-Williams ist keine 18 Jahre mehr alt wie damals, als er auf der Bildfläche erschien und – zusammen mit Gentleman und Seeed – den jamaikanischen Reggae auf bundesdeutsche Verhältnisse herunterbrach, indem er zwar das schwerelose Gefühl von der karibischen Insel importierte, aber die Vorlage von den antisemitischen, homophoben und sexistischen Tendenzen bereinigte.Mittlerweile ist der Sohn einer Deutschen und des Oppositionellen, Afrikanisten und Schriftstellers Gaston Bart-Williams aus Sierra Leone 31 Jahre alt, wird bald zum zweiten Mal Vater und hat seine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten lange schon dramatisch erweitert. Tatsächlich ist es bereits seit Jahren eine Fehleinschätzung, dass der Salem-Absolvent ein Reggae-Musiker sei. Doch mit One ist dieses Vorurteil endgültig obsolet geworden. Lange bevor ein Offbeat an die Wurzeln des großen Bob-Marley-Fans Patrice erinnern kann, durfte man bereits das epische The Maker mit seinem eleganten Sounddesign erleben, die fantasievolle Coverversion eines Stücks aus dem Musical Hair und ungemein ausgetüftelte Streicher-Arrangements. One führt überdeutlich vor, dass Patrice eben nicht mehr nur Sänger und Musiker ist, sondern in letzter Zeit auch das größere Ganze im Auge behält. Dass er immer öfter auch andere Künstler produziert, das macht sein fünftes Album zu seinem bisher besten. Denn nun ist ihm nicht mehr nur der Song, sondern auch dessen Umsetzung wichtig. Das ist eine relativ neue Entwicklung, war das Studio Patrice früher doch nur Nebenaspekt seines Schaffens. Erst vor Publikum lief er zu Hochform auf, die Songs für die Ewigkeit festzuhalten, war ihm eher lästige Pflicht. Dafür konnte er allein mit seiner akustischen Gitarre und seinem Charisma einen Saal in den Bann schlagen. Heute hat sich das Live-Ereignis Patrice vom Predigen verabschiedet, hat eine Band im Rücken, wenn er auf die Bühne geht, und sieht sich eher als Musiker. Und als solcher, das beweist das neue Album, hätte er es verdient, nicht mehr nur als zweitberühmtester Sohn in die Stadtgeschichte Kerpens einzugehen. Thomas WinklerCD, URBAN/UNIVERSALTOURTERMINE: 7.10. WIESBADEN, 9.0. MÜNCHEN, 13.10. BERLIN, 14.10. HAMBURG, 15.10. BREMEN, 16.10. BIELEFELD, 8.10. STUTTGART, 22.10. KÖLN (FORTSETZUNG IM NOVEMBER)


Lily Dahab: Nómade | Lily Dahab hat schon an den verschiedensten Flecken auf der Welt gelebt – zuletzt in Madrid. Sogar in Madonnas Film Evita flimmerte die attraktive Argentinierin über die Leinwand. Ihr Nomadenleben hat die Sängerin inzwischen nach Berlin gespült. Dort – fernab der Heimat – gewinnt sie nicht nur einen frischen, unverstellten Blick auf die Musik Lateinamerikas, sondern auch eine illustre Schar Berliner und argentinischer Musiker, mit denen sie gemeinsam ihrer Lust auf Boleros, Bossa Novas, Sambas und Tangos frönen kann. Frau Dahab überzeugt dabei mit einer äußerst wandelbaren Stimme. Sanft und mädchenhaft einschmeichelnd erklingt sie in Klassikern wie Jobims Aguas de Março, aber überzeugend dramatisch und mit Autorität und Power ausgestattet, wo’s unerlässlich ist, nämlich in Tangos ihrer Landsleute Astor Piazzolla und Eladia Blázquez. Und das Schönste an Nómade: Die Klangreise quer durch den südamerikanischen Kontinent kommt ohne poppigen Schnickschnack aus. rix

PEREGRINA/IN-AKUSTIK


Die Wallerts: Raubkopiert | Unbegreiflich, dass sich bis jetzt keine Plattenfirma diese lustige Band unter den Nagel gerissen hat. Die Wallerts sind fünf Berliner Jungs, die mit einem Instrumentarium aus Akkordeon, Kontrabass, Gitarre, Kamm und Cajón seit einiger Zeit das Genre der Humppa-Musik in der Hauptstadt hochladen. Humppa, eine Art Speed-Polka, kommt aus Finnland und zeigt sich dort mit seinem Partypotential seit den 30er Jahren unverwüstlich. Die Wallerts, vor allem live ein Ereignis, haben das knackige Konzept ins Herz geschlossen: ein bekannter Hit zum Mitsingen der Melodie, kenntnisreich im mitreißenden Humppa-Offbeat arrangiert, und dazu ein perlender Text aus dem persönlichen Erlebnisbereich, fertig ist die unwiderstehliche Mischung aus Schenkelklopfer (Uwe Uwe), Sauflied (Branntwein) und politischem Gassenhauer (Mandy, das Nazimädchen). Noch laden die unaufhaltsamen Wallerts zum freien Download ihrer unbekümmerten Werke auf ihrer Homepage www.diewallerts.de ein. Lange wird es diese Chance wohl nicht mehr geben. jm