Viele Stuttgart 21

ZEIT ONLINE 7. OKTOBER 2010ZEIT online: Sie rufen zum Protest?

Bsirske: Wir werden in diesem Herbst deutlich machen, was wir von der schwarz-gelben Politik halten. Nicht durch Massendemonstrationen in Berlin, weil solche Veranstaltungen oft zu weit weg von der Realität der Arbeitnehmer entfernt sind. Wir werden einen Weg gehen, den jene, die es betrifft, mehr spüren werden: Wir tragen die Debatte über soziale Gerechtigkeit in die Betriebe und wieder aus den Betrieben hinaus. Es wird Tausende von Betriebsversammlungen und Aktionen geben. Wir beobachten genau, was derzeit in Stuttgart passiert. Dort bekommt ein lokaler Protest plötzlich bundesweit Sprengkraft. Es gibt viele kleine Stuttgart 21 in Deutschland, und wir sind davon überzeugt, dass der Unmut der Bürger über die Verhältnisse im Land wächst. Bislang hat die Sorge um die Sicherheit des Arbeitsplatzes das Denken der Arbeitnehmer bestimmt. Jetzt kommt ein Zweites hinzu: Das Gerechtigkeitsgefühl ist in Deutschland stark verankert, und es wird gerade grob missachtet.

Frank Bsirske, 58, ist der ver.di-Vorsitzende


Liberaler Irrläufer

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 8. Oktober 2010

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) ist im Amt gewachsen. Er hält die richtigen Reden, besucht die richtigen Leute und setzt die richtigen Akzente; viel mehr kann man vom ordnungspolitischen Gewissen der Regierung nicht verlangen, das über ein großes Ministerium, aber wenig wirkliche Macht verfügt. [...] Alles also lief so schön - da gab der Herr Minister ein Interview zur Tarifpolitik. Es war nicht richtig falsch, was er sagte, aber es war auch nicht richtig, und es kam vor allem zur falschen Zeit. Die flockige Bemerkung: "Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich", erwartet man von Gewerkschaftsvertretern, Sozialdemokraten oder gelegentlich auch von Ursula von der Leyen, aber sicher nicht vom liberalen Wirtschaftsminister. Vorzuwerfen ist ihm nicht, dass die Politik für Tarifverhandlungen gar nicht zuständig ist. Das stimmt zwar, aber es ist ja gerade Aufgabe des Wirtschaftsministers, Akzente zu setzen, Stimmungen zu beeinflussen. Sondern es stört die Schlichtheit der Aussage. Zu allem Überfluss hat Brüderle auch noch auf den komfortablen Abschluss der Stahlindustrie hingewiesen und ihn als Vorbild bezeichnet. Das war dann selbst dem Verdi-Vertreter zu viel, der natürlich weiß, dass für die florierende Stahlbranche andere Maßstäbe gelten müssen als für den Einzelhandel mit seinen kleinen Margen.


An die Arbeit

FRANKFURTER RUNDSCHAU 1. Oktober 2010

Ein Zuschlag um die drei Prozent wäre [...] für die gesamte Wirtschaft angemessen. Doch die Wende weg von der Lohnzurückhaltung hin zu einem stetigen, moderaten Einkommenszuwachs werden die Gewerkschaften allein nicht schaffen. Schon wahr: In Branchen wie der Chemieindustrie, wo die Geschäfte wieder gut laufen und Gewerkschaften stark sind, können Beschäftigte mit mehr Geld rechnen. Auch gefragte Fachkräfte können hoffen. Niedriglohnbeschäftigte im Handel oder Gastgewerbe brauchen aber die Hilfe des Staats: Nur wenn die Politik mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt und eine Lohn-Untergrenze einzieht, kann die Lohnwende gelingen.


Mal auf den Tisch hauen!

DIE TAGESZEITUNG, 30. SEPTEMBER 2010

Wollen die deutschen Gewerkschaften nicht weiter an gesellschaftlicher Relevanz einbüßen, dann müssen sie die soziale Frage - auch in ihren Reihen - endlich offensiv stellen. Das geht aber nicht am Schürzenzipfel der Kanzlerin. Besser wäre es, mal kräftig auf den Tisch zu hauen.