Das Leben wird teurer. Kassiererinnen, Krankenpfleger und Postboten müssen beim Einkaufen, Heizen und Tanken immer tiefer in die Tasche greifen. Bald sind die jährlichen Abschlagszahlungen für Gas fällig. Viele Familien müssen dann über 2.000 Euro mehr an ihren Energieversorger überweisen. Doch damit nicht genug. Die Lebensmittelpreise steigen ebenfalls rasant. Für Sonnenblumenöl, Butter, Nudeln und Eier geben die Verbraucher heute bis zu ein Drittel mehr aus. Die Preise werden dieses Jahr um über 6 Prozent steigen. Das ist die stärkste Teuerung seit 40 Jahren. Die größten Inflationstreiber sind der russische Angriffskrieg, die einhergehenden Sanktionen, globale Lieferkettenengpässe sowie die Preistreiberei marktmächtiger Konzerne. Die professionellen Auguren rechnen auch im nächsten mit einem Plus bei den Preisen von 3 bis 4 Prozent.

15_DierkHirschel.jpg
Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik bei ver.diFoto: Kay Herschelmann

Das beste Rezept gegen steigende Lebenshaltungskosten sind kräftige Lohn- und Gehaltszuwächse. Letztes Jahr stiegen die Tariflöhne aber nur um 1,7 Prozent. Folglich mussten die Beschäftigten – bei 3,1 Prozent Inflation – einen sehr starken Reallohnverlust hinnehmen. Das geringe Tariflohnplus war dem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld der Pandemie geschuldet. Millionenfache Kurzarbeit, wachsende Arbeitslosigkeit und unsichere wirtschaftliche Zukunftsaussichten schwächten die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht. In einigen Branchen konnten die Gewerkschaften die sinkende Kaufkraft durch steuer- und abgabenfreie Corona-Prämien ausgleichen. Das war hilfreich, ist aber mittel- bis langfristig keine Lösung. Wenn die Sonderzahlung wegfällt, purzeln die Preise nicht.

Dieses Jahr verhandeln die Gewerkschaften Tarifverträge für knapp zehn Millionen Beschäftigte. In der zweiten Jahreshälfte stehen große Tarifrunden im öffentlichen Dienst, bei der Telekom, bei der Post und in der Metall- und Elektroindustrie an. Die Gewerkschaften orientieren sich tarifpolitisch traditionell an der Entwicklung der Verbraucherpreise und der Produktivität. Ziel ist die Sicherung der Kaufkraft und eine angemessene Teilhabe der Beschäftigten am Zuwachs der Wirtschaftsleistung. Das Sozialprodukt wird dieses Jahr um voraussichtlich 1,5 bis 2,5 Prozent zunehmen. Wenn die Wirtschaft wächst, wird der gesamtwirtschaftliche Kuchen und somit auch die Verteilungsmasse größer. Hinzu kommt, dass die börsennotierten Unternehmen der Republik dieses Jahr rund 70 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausschütten. Dieser Geldregen schreit geradezu nach einem Umverteilungszuschlag. Und darauf hat ver.di bereits reagiert. In den letzten Tarifrunden an den Flughäfen, an den Unikliniken und bei den Sozial- und Erziehungsberufen konnte ver.di kräftige Lohnzuwächse erstreiten.

„Einen Automatismus zwischen steigenden Löhnen und Preisen gibt es nicht."

Währenddessen warnen Arbeitgeber und wirtschaftsliberale Ökonomen vor einer drohenden Lohn-Preis-Spirale. Hier wird ein Schreckgespenst an die Wand gemalt. Schließlich geht von der schwachen Lohnentwicklung kein Preisdruck aus. Zudem ist der Begriff der Lohn-Preis-Spirale irreführend. Einen Automatismus zwischen steigenden Löhnen und Preisen gibt es nicht. Für die Preise sind allein die Unternehmen verantwortlich. Wenn Löhne und somit Arbeitskosten steigen, erhöhen einige Firmen ihre Preise – vorausgesetzt der Wettbewerb lässt das zu –, um zu verhindern, dass ihre Gewinnmarge schrumpft. Sie könnten aber auch mit niedrigeren Gewinnen wirtschaften.

Bescheidenheit ist aber keine Managementtugend. Auch in der Krise nicht. Große Unternehmen kassieren unter dem Schutzmantel allgemeiner Preissteigerungen ihrer Marktmacht auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ab. Das gilt besonders für Big Öl. Fünf große Gas- und Mineralölkonzerne machten zwischen April und Juni 48 Milliarden US-Dollar Gewinn – mehr als dreimal so viel wie im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Diese Krisengewinne heizen die Inflation an. Eine Gewinn-Preis-Spirale verteuert somit das Leben.

Die Gewerkschaften werden auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten an ihrem Anspruch, die Kaufkraft zu sichern und die Beschäftigten angemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen, festhalten. Aktuell können IG Metall, ver.di & Co die sozialen Folgen der Teuerung aber nicht allein abfedern. Hier ist auch die Politik gefragt. Spätestens im Herbst muss die Regierung ein weiteres Entlastungspaket zum Schutz verwundbarer Bevölkerungsgruppen und der Mittelschicht schnüren. Und die Preistreiberei der Großunternehmen muss durch eine Übergewinnsteuer gestoppt werden.