Ausgabe 11/2010
Land der Leiharbeit
Die Zahl der Leiharbeiter hat die Millionengrenze erreicht und steigt weiter. Ein Ende des Anstiegs ist nicht absehbar
von Petra Welzel
Zehn bis zwölf Stunden Arbeitszeit pro Tag, ein Akkordlohn plus 75 Cent Anwesenheitsprämie, die aber schon bei einem Krankheitstag im Monat entfällt – macht 900 Euro netto für eine Vollzeitstelle. So sieht sie aus, die Arbeitswelt der Leiharbeiter/innen in Deutschland. Sie können ihnen tagtäglich begegnen, etwa bei Rewe, Netto oder Edeka. Die drei Einzelhandelsketten leihen sich ihre Mitarbeiter/innen schon seit längerem bei „headway logistic“, einer bayerischen Zeitarbeitsfirma, aus.
Und nicht nur sie allein: 42600 Unternehmen in ganz Deutschland setzen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Leiharbeitskräfte in ihren Betrieben ein. Vor allem immer mehr. Nach den letzten aktuellen Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) waren im August dieses Jahres knapp 900000 Menschen über einen Zeitarbeitsvertrag beschäftigt, so viele wie noch nie. Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl der Leiharbeiter/innen in diesem Jahr noch über eine Million steigen wird.
Ehemals ein Instrument, um Produktionsspitzen abzufangen, ist die Leiharbeit inzwischen das arbeitsmarktpolitische Instrument, mit dem die Unternehmen Lohnkosten senken und ihre Gewinne optimieren. Möglich gemacht hat das die Aufhebung mehrerer gesetzlicher Vorschriften zur Leiharbeit bereits unter Rot-Grün 2003. Seither können Leiharbeiter etwa ohne zeitliche Befristung eingesetzt werden.
Und das sagen die Zahlen des IW auch: Leiharbeiter sind vor allem Hilfsarbeiter. 36 Prozent aller Hilfsarbeiter/innen kommen über Zeitarbeitsfirmen in die Unternehmen. Und mehr als die Hälfte der Leiharbeiter/innen sind unter 35 Jahre, junge Menschen, die in unsicheren Arbeitsverhältnissen stecken. Sie müssen mutig sein, unter solchen Bedingungen eine Familie zu gründen. Denn nach allem, was bisher bekannt wurde, werden auch die geplanten Änderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die Auswüchse in der Leiharbeit nicht zum Stoppen bringen.
Einmal Leiharbeiter, immer Leiharbeiter
Vollmundig hatte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, CDU, Anfang des Jahres verkündet, dass es Machenschaften wie beim Drogeriediscounter Schlecker zukünftig nicht mehr geben werde. Schlecker hatte rund 5000 Mitarbeiterinnen gekündigt und ihnen Zeitarbeitsverträge zum halben Gehalt über die eigene Leiharbeitsfirma Meniar angeboten. Von einer so genannten Schlecker-Klausel im geänderten Gesetz war die Rede. Doch ein Blick in den jüngsten Gesetzesentwurf, der am 10. November im Bundeskabinett beraten wurde, zeigt: Die Klausel wird von Ausnahmeregelungen ad absurdum geführt. Weiterhin soll die unterschiedliche Bezahlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitskräften möglich sein, wenn die Zeitarbeitsfirma einen Tarifvertrag besitzt. Und der darf dann auch ruhig mit einer der christlichen Gewerkschaften abgeschlossen worden sein, denen im Dezember möglicherweise das Bundesarbeitsgericht wie schon zuvor das Landesarbeitsgericht Berlin / Brandenburg bescheinigen wird, dass sie nicht tariffähig sind.
Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit vom ersten Tag an wird es also auch in Zukunft in der Leiharbeit nicht geben. Es wird auch keine Begrenzung der Höchstüberlassungsdauer geben, was so viel heißt wie, einmal Leiharbeiter, immer Leiharbeiter. Und nicht zuletzt: Das Gesetz sieht auch weiterhin keinen Branchenmindestlohn vor. Wenn ab Mai 2011 in Europa die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, ist klar, wo die Unternehmen ausleihen werden – beim billigsten Anbieter.
Hoffen lässt da eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Danach lehnen 60 Prozent der Deutschen die Leiharbeit ab. Und 87 Prozent halten die ungleiche Bezahlung für ungerecht. Vor drei Jahren noch waren die Umfragewerte deutlich geringer. Das Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen regt sich immer mehr, und macht sich auch in Tarifverhandlungen bemerkbar. Unlängst wurde in der nordwestdeutschen Stahlindustrie der erste Flächentarifvertrag abgeschlossen, der für Leiharbeiter/innen die gleiche Bezahlung festschreibt. Und die ver.di-Vizevorsitzende Magret Mönig-Raane sagt: „Ich gehe fest davon aus, dass die Behandlung von Leiharbeitern künftig in Tarifverhandlungen immer Teil der Forderungen sein wird.“