Sie ist 26 Jahre alt und muss für ihren Sohn, ihre Mutter, einen behinderten Bruder und einen weiteren Verwandten sorgen: Jessim Begum aus Bangladesch. Die schmächtige Frau mit dem langen Zopf arbeitet in einer Textilfabrik, die Kleidung für Lidl herstellt. 35 Euro verdient die qualifizierte Näherin ohne Überstunden. Weil das nie und nimmer reicht, schuftet sie oft so lange, dass ihr nicht einmal sechs Stunden zum Schlafen bleiben. Trotzdem bekommt sie am Monatsende nur 55 Euro.

"Wir haben nicht einmal genug Geld, um uns anständig zu ernähren", berichtete sie bei einer Veranstaltung in der ver.di-Zentrale Mitte November. Seit Monaten gibt es in Bangladesch Unruhen wegen der katastrophalen Wirtschaftslage und der Menschenrechtsverletzungen in den Fabriken. Gewerkschafter haben dort keinen Zugang, die hygienischen Verhältnisse sind miserabel, viele Frauen klagen über Misshandlungen. Obwohl Lidl und Co. dank solch unmenschlicher Bedingungen hohe Gewinne einstreichen, können EU-Konzerne bisher nicht verantwortlich gemacht werden für das, was bei ihren Zulieferern oder Tochterfirmen geschieht. Immerhin hat EU-Industriekommissar Günter Verheugen hier inzwischen eine Regulierungslücke ausgemacht. Und auch der UN-Sonderberichterstatter für Wirtschaft und Menschenrechte, John Ruggie, hat Handlungsbedarf angemahnt.

EU-Unternehmen sind verantwortlich

Die "Kampagne für saubere Kleidung" fordert nun, in der EU ansässige Unternehmen haftbar zu machen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen, die in ihren Tochterfirmen oder Zulieferbetrieben geschehen. Juristisch abwegig ist das nicht: Schließlich können seit ein paar Jahren auch deutsche Sextouristen für im Ausland verübten Kindesmissbrauch angeklagt werden.

Darüber hinaus sollen betrogene und geschundene Arbeiter vor europäischen Gerichten klagen können, verlangt die Kampagne. Auch dafür gibt es inzwischen internationale Vorbilder. In den Niederlanden hat sich ein Gericht Ende vergangenen Jahres erstmals für zuständig erklärt, über die Umweltverschmutzungen von Shell in Nigeria zu verhandeln. Eine undichte Pipeline hatte Felder und Fischgründe verseucht und damit die Lebensgrundlage vieler Familien zerstört. Vergeblich hatten die Bauern versucht, Schadensersatz vor einem nigerianischen Gericht zu erstreiten. Doch ähnlich wie in Bangladesch ist das dortige Justizsystem korrupt, und arme Leute haben keine Chance, sich gegen reiche Gegner durchzusetzen.

Schließlich will die Kampagne für saubere Kleidung noch an einer dritten Stelle den Hebel ansetzen, um die Lage der Arbeiter/innen in den Zulieferbetrieben zu verbessern: Unternehmen sollen zur Veröffentlichung bestimmter Informationen verpflichtet werden. Bisher können Konsumenten auf Grundlage des Verbraucherinformationsgesetzes lediglich konkrete Eigenschaften eines Produkts herausfinden - insbesondere die Inhaltsstoffe. "Doch wo und unter welchen Bedingungen etwas hergestellt wurde, bleibt im Dunkeln", sagt Kampagnen-Sprecherin Gisela Burckhardt. Wissen die Käufer Bescheid, übt auch das Druck auf die Konzerne aus - so die Hoffnung. Annette Jensen