An die Spitze des südamerikanischen Landes rückt mit Dilma Rousseff erstmals eine Frau. Es geht weiter um wirtschaftliches Wachstum und den Abbau von Ungleichheit und Armut

Sie kommt, er geht. Dilma Rousseff und Lula da Silva auf einer Fahne ihrer begeisterten Anhänger

Von Peter Steiniger

Es ist keine politische Zäsur, dafür aber eine kulturelle: Zum 1. Januar 2011 bekommt Brasilien erstmals eine Staatschefin. In der Stichwahl am 31. Oktober konnte sich Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT mit 56 Prozent der Stimmen gegen ihren konservativen Gegenkandidaten José Serra durchsetzen. Auch die grobe Kampagne der politischen Rechten, der zugehörigen großen Medien und christlicher Fundamentalisten konnte den allgemein erwarteten Ausgang nicht mehr vereiteln.

Brasiliens Wähler stimmten dabei mehrheitlich nicht für die Person Dilma, wie sie hier kurz heißt, sondern für Kontinuität. Ihr Erfolg hat einen Paten: den scheidenden Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, dem die Verfassung keinen Wiederantritt erlaubte. Er ebnete seiner Kabinettschefin den Weg zur Kandidatur für das mächtigste politische Amt. "Wir werden Lulas Weg weitergehen", war die zugkräftigste Wahlkampfbotschaft von Rousseff. Auch in den zwei Kammern der brasilianischen Legislative, dem Senat und der Abgeordnetenkammer, konnten die Parteien des Wahlbündnisses um Dilma Rousseff und die PT zulegen.

Wachsende Wirtschaft

Am Erfolg der letzten acht Jahre hat die Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige Energieministerin der Bundesregierung ihren Anteil. Dank des Ressourcenreichtums des Landes, starker Staatsfinanzen und einer aktiven Industriepolitik boomt die Wirtschaft - gegen den weltweiten Trend. Auf Umweltfragen nahm die wachstumsorientierte Politik allerdings wenig Rücksicht. Obwohl Brasilien weiterhin zu den Ländern mit der ungerechtesten Einkommensverteilung gehört, stieg auch die Kaufkraft der unterprivilegierten Schichten an. Der politische Diskurs konzentrierte sich auf die soziale Frage. Bei der Armutsbekämpfung wurden Fortschritte erreicht. Etwa 12,5 Millionen Haushalte erhalten heute finanzielle Unterstützung zum Familieneinkom-men. Die ist gekoppelt an die Einhaltung der Schulpflicht und verschiedene Gesundheitskontrollen für die Kinder.

Neben Sozialtransfers verbesserten auch Infrastrukturprogramme die Lebensbedingungen in unterentwickelten und von der Politik früher vernachlässigten Regionen. Entsprechend deutlich fiel in den Bundesstaaten des Amazonasgebiets und im Nordosten das Votum für die PT-Kandidatin aus. José Serra von der PSDB, der vormalige Gouverneur des reichen Bundesstaates São Paulo, sah hier kaum einen Stich. Nach dem Wahlausgang entlud sich aus elitären Kreisen eine aggressive Hetzwelle in Zeitungen und im Internet, die sich vor allem gegen die sozial und rassistisch stigmatisierten "Nordestinos", die Menschen aus dem Nordosten, richtete.

Gewerkschaften für Dilma

Was es kosten kann, sich mit den alten Eliten anzulegen, hat die 1947 geborene Dilma Rousseff am eigenen Leib erlebt. Ihr Vater, ein bulgarischer Kommunist, war nach Südamerika emigriert und hatte es zum erfolgreichen Anwalt gebracht. Als Studentin schloss sich Rousseff Ende der 1960er Jahre linken Widerstandsgruppen gegen die Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 an. Sie wurde Opfer von politischer Verfolgung, wurde inhaftiert und gefoltert.

Im Kampf gegen das Regime wuchs auch eine starke Gewerkschaftsbewegung heran. Die sechs wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände des Landes, darunter der größte, die Central Única dos Trabalhadores (CUT), unterstützten direkt die Wahlkampfkampagne für die Präsidentschaft von Dilma Rousseff. Sie gaben ihr eine "Agenda der Arbeiterklasse" mit auf den Weg, in der Erwartungen an die Politik der kommenden Jahre formuliert werden. Ein zentraler Punkt ist die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns oberhalb der Inflationsrate. Derzeit liegt er bei 510 Reais (etwa 222 Euro). Die wöchentliche Arbeitszeit soll ohne Lohnverlust auf 40 Stunden begrenzt werden. Die Verteidigung gewerkschaftlicher Rechte und kollektiver Tarifverträge steht ebenfalls im Katalog der Gewerkschaftsbewegung.

Die ersten Entscheidungen von Rousseff unterstreichen die versprochene Kontinuität. Die künftige Staatschefin will die Investitionsrate weiter erhöhen und Lulas "erfolgreiche Wirtschaftspolitik fortsetzen". Dass soziale und ökologische Fragen dabei nicht zu kurz kommen, hoffen viele Brasilianer.