Gute Arbeit hat ihren Preis

We Want Sex | Swinging Sixties in England: Mary Quant, Minirock, Hot Pants, Beat und Rebellion. Ein Jahrzehnt im Aufbruch. Wenige Meilen von der coolen Londoner Carnaby Street entfernt, im industriellen Herzen von Essex, scheint die Welt freilich noch in Ordnung. Wie der VW-Konzern das niedersächsische Wolfsburg, so prägt Ford damals den Londoner Vorort Dagenham. Alles dreht sich um die Autoproduktion.

Schwitzend über ihre ratternden Singer-Nähmaschinen gebeugt, schuften die Arbeiterinnen dort in der stickigen Fabrikhalle. Auch die junge Mutter Rita O’Grady (Sally Hawkins) näht im Akkord eifrig Polsterbezüge aus Lederflicken. Doch das ändert sich bald. Als das stocksteife Management ihre Arbeit als unqualifiziert abtut, um ihren Lohn zu drücken, platzt den Frauen der Kragen. Streik heißt jetzt ihre Parole.

Mit seiner britischen Sozialkomödie glückt Regisseur Nigel Cole eine Hymne auf den historischen Kampf der englischen Arbeiterinnen von Dagenham Ende der 60er Jahre. Charmanter Agitprop, humorvoll, witzig und unsentimental inszeniert. Der kurzweilige Wohlfühl-Film um den erfolgreichen Streik der Frauen für gleichen Lohn funktioniert mit seinen detailgetreuen Bildern auch als ermutigende, packende Geschichtsstunde. Denn die konsequente Haltung der britischen Arbeiterinnen ermöglicht letztlich in Großbritannien den „Equal Pay Act“ von 1970. Ein weltweites Signal. Schließlich besitzen derartige Erfolge im ungezügelten Neoliberalismus und der Globalisierung dieser Tage Seltenheitswert.

Fabelhaft unterstützt vom peppigen Sixties-Soundtrack, vermeidet die emotionale Milieustudie jeden noch so biederen Anklang einer Sozialreportage. Vielmehr verbreitet sie freche Lebendigkeit. Nie verlieren Drehbuch und Regie ihren beschwingten Schritt. Nach seinem Kinohit Kalender Girls löst der 51-jährige Cole damit seinen Ruf als Spezialist für warmherzige Komödien überzeugend ein. Pulsierendes Zentrum seiner Hommage an weibliche Zivilcourage ist Berlinale-Gewinnerin und Happy-Go-Lucky- Star Sally Hawkins. Wie einst Julia Roberts im Ökothriller Erin Brokovich spielt das 34-jährige Londoner Energiebündel eine Alltagsheldin mit Chuzpe. Den beschwingten, aber irreführenden Titel verdankt der Film übrigens einem Gag am Rande. Luitgard Koch

GROSSBRITANNIEN 2010, R: NIGEL COLE, D: SALLY HAWKINS, MIRANDA RICHARDSON, BOB HOSKINS, ROSAMUND PIKE, RUPERT GRAVES, GERALDINE JAMES, DANIEL MAYS, ANDREA RISEBOROUGH, JAIME WINSTONE, 113 MINUTEN, KINOSTART 13.1.2011


Ich sehe den Mann deiner Träume | Woody Allen entlarvt Sehnsüchte als Realitätsfluchten, in London. Ein alter Exgatte brutzelt lieber im Sonnenstudio und heiratet ein Call-Girl. Ein ausgebrannter Autor klaut einem Komapatienten den Erfolgsroman und fixiert sich auf die junge Person am Fenster der Wohnung gegenüber. Der Buchhändler antiquarischer Esoterika verweilt auch sonst in der Vergangenheit, die Séancen mit der verstorbenen Liebe genießend. Wie (re)agieren die weiblichen Protagonisten? Mit vergeblichen Flirts, sportlichen Liebhabern. Oder Besuchen bei einer Scharlatan-Weissagerin: Whisky nippen und den Versprechungen verfallen, „Ich sehe den Mann deiner Träume...“ (eine grandios egozentrische Gemma Jones). Woody Allens düsterste Liebeskomödie! jv

USA/GB 2010. R: WOODY ALLEN, D.: ANTHONY HOPKINS, JOSH BROLIN, NAOMI WATTS; 98 MIN.,KINOSTART: 2.12.10


La Danse | Mit einer erstklassigen Kompanie, charismatischen Stars und stilistischer Vielfalt ist das Ballett der Pariser Oper weltweit eines der attraktivsten. Wiseman konzentriert sich bei seinem Blick hinter die Kulissen auf Impressionen aus Proben und Aufführungen. Klischees vom tränenreichen Weg einer Primaballerina bestätigen sich dabei nicht, von sturem Drill kann keine Rede sein. Ob klassischer Spitzentanz im Tutu oder zeitgenössisches Tanztheater, Nurejews legendäre Interpretation von Tschaikowskys beliebtem Nussknacker oder eine Arbeit der Kult-Choreografin Sasha Waltz: Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Am schönsten sind die intimen Pas de Deux’, mal anmutig, mal hocherotisch oder virtuos. Zum Glück lenkt kein Kommentar davon ab. Der künstlerisch anspruchsvolle Film gibt sich vielmehr wie Carlos Sauras Meisterwerk Tango ganz der Faszination hin, die vom Tanz ausgeht und unweigerlich auf den Zuschauer abstrahlt. kl

F/USA 2009. R: FREDERICH WISEMAN. D: ÉMILIE COZETTE, AURÉLIE DUPONT, DOROTHÉE GILBERT U. A. 158 MIN., START: 30.12.10


Howl – Das Geheul | Kein Horror, sondern die „Poesieverfilmung“ des berühmten sozialanklägerischen Gedichts von Allen Ginsberg, Howl, von 1956. Für dessen Veröffentlichung wurde sein US-Verleger vor Gericht gezerrt. Die Verhandlung über den Vorwurf der Obszönität, ein Interview mit dem charmanten Ginsberg sowie seine erste Lesung in San Francisco verbinden sich mit Visualisierungen der wuchtig rollenden Sätze selbst und atemberaubenden Animationen. Und während der Gerichtsszenen freuen sich nicht nur Fans des schlauen Schlagabtauschs in Justizthrillern. Auch Geisteswissenschaftler sitzen grinsend im Kinodunkel, den Definitionen von Literatur lauschend, den Un- und Umdeutungen der Zitate, der Verteidigung bewegender Wörter. jv

USA 2010. R: ROB EPSTEIN/JEFFREY FRIEDMAN. D: JAMES FRANCO, JON HAMM, DAVID STRATHAIRN, JEFF DANIELS, ALESSANDRO NIVOLA, 90 MIN., KINOSTART: 6.1.11