Von Heike Schrader

Angefangen hat es mit ein paar hundert Leuten, mittlerweile hat die Bewegung "Ich bezahle nicht" hunderttausende Mitglieder. Sie weigern sich, die auf den weitgehend privatisierten Nationalstraßen Griechenlands fälligen Mautgebühren und die im Februar um bis zu 40 Prozent gestiegenen Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr zu zahlen. Von der Regierung als "Schnorrer" verunglimpft, sehen sie sich als Teil des Widerstands der Bevölkerung gegen die Streichungen bei Löhnen und Rechten. "Wir sind eine Bewegung, die fordert, und nicht nur eine Masse von Leuten, die eine Gesetzeslücke gefunden haben, um individuell nicht zu zahlen", sagt Leonidas Papadopoulos, der von Anfang an dazu gehörte. Die Leute von "Ich bezahle nicht" seien auch auf einer Wellenlänge mit den Gewerkschaften, die wollen, dass die Krise nicht von den Lohnabhängigen, sondern von denen bezahlt wird, die sie verursacht haben. "Bildung, Gesundheitsfürsorge, Dienste der Gemeinden, alle gesellschaftlichen Güter, die unter der herrschenden Politik privatisiert und kostenpflichtig werden, sollten jedem frei zur Verfügung stehen", ergänzt Dimitris Polichroniadis, ein Mitstreiter von Papadopoulos.

Der achte Generalstreik

Mit Massenaktionen wie dem mindestens zweimal im Monat mehrere Stunden andauernden Öffnen von Schranken auf fast allen mautpflichtigen Nationalstraßen und dem Kapern von Bussen, mit dem allen Fahrgästen eine Freifahrt beschert wird, hat sich die Bewegung als wirkungsvoller Teil des Widerstands etabliert. Im Gegensatz zu anderen Basisgruppen ist "Ich bezahle nicht" keine Formation, bei der der Verdacht naheliegt, dass sie sich im nächsten Wahlkampf in eine Partei verwandeln könnte. Das macht "Ich bezahle nicht" attraktiv, denn ihr Vertrauen in die Parteien haben viele Griechen verloren. Laut Eurobarometer, einer von der EU-Kommission regelmäßig in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage, misstrauen 93 Prozent der Befragten den Parteien.

"Ich bezahle nicht" ist eine Form von Widerstand, die sich unmittelbar auf den eigenen Geldbeutel auswirkt, während die Teilnahme an Streiks einen Tageslohn kostet, da die wenigsten Gewerkschaften in Griechenland über Streikkassen verfügen. Nach wie vor aber sind die Gewerkschaften die wichtigste Kraft im anhaltenden Widerstand. Beim jüngsten Generalstreik am 23. Februar, dem ersten des Jahres und dem achten seit Unterzeichnung des Kürzungspakets der griechischen Regierung im Gegenzug für Milliardenkredite von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF), verweigerten Hunderttausende die Arbeit. Leider würde auch ein Dutzend Generalstreiks im Jahr nicht ausreichen, um die Kräfteverhältnisse zugunsten der Erwerbstätigen zu ändern, fürchtet Panagiotis S., Busfahrer in Athen. "Ihre Wirkung ist eher symbolisch", sagt der Gewerkschafter. Er denkt, dass die Dachverbände bei der Koordination der Streiks über verschiedene Branchen hinweg versagt haben. Seine Gewerkschaft hat sich mehr als zwei Monate mit Streiks gegen Lohnkürzungen und Entlassungen gewehrt. Das umkämpfte Gesetz wurde trotzdem mit den Stimmen der regierenden PASOK durchgebracht. Neben der Regierung hatten die Kollegen auch die meinungsbildenden Fernsehsender zum Gegner, die in ihren Hauptnachrichten die Bürger gegen die Streikenden ausspielen.

Nach den Busfahrern haben im März die Lehrer gegen die Zusammenlegung von Schulen zu Mammut-Einrichtungen und die Ärzte gegen Kürzungen im Gesundheitswesen gestreikt. Die für Brancheninteressen geführten Streiks sind inzwischen so zahlreich, dass im Internet mehrere Streik-Kalender geführt werden. Eine Koordination des Kampfes gegen die Kürzungen gibt es aber nicht.

Für die kommunistisch orientierte Gewerkschaftsfront PAME sind die von der regierungsparteinahen Gewerkschaftsfraktion PASKE geführten Dachverbände nur "Treibriemen, um die Politik der Regierung unter den Erwerbstätigen zu verbreiten". Die PAME vereint Dutzende Branchengewerkschaften und hunderte Basisgruppen und Betriebsräte zur stärksten Gewerkschaftsformation im Land, schafft es allein aber nicht, die Kämpfe zu vereinen.


Griechenland, die Krise und der Euro

Protest an einer Mautstelle bei Athen. Die Maut kann zurzeit bis zu 1500 Euro pro Jahr betragen

Was mussten wir nicht alles über die Griechen lesen: "Abgebrannt" sind sie (Die Zeit), "Pleite-Griechen" mit "Luxusrenten" (Bild). Andreas Wehr, Jurist und Mitarbeiter im Europaparlament, ist diesen Thesen nachgegangen. Er liefert die Anatomie einer Lüge, die in Brüssel ihren Ursprung hat, über die Boulevardpresse verbreitet wurde und unter anderem bei einem Marsch der neofaschistischen NPD ("Deutsches Geld für deutsche Interessen!") vor dem Konsulat Athens in Düsseldorf endete. Er erklärt, weshalb Griechenland nicht die EU, sondern die EU Griechenland bedroht, und zeichnet nach, wie die kerneuropäischen Staaten jahrelang Waren- und Kapitalexporte zu Lasten der schwächeren Nachbarn in Süd und Ost betrieben. Das strukturschwache Griechenland hatte dabei ebenso wenig eine Chance, eine eigene, nachhaltige Industrie aufzubauen, wie Portugal, Ungarn oder Lettland. Deren innerhalb der EU erzwungenen "Schuldenökonomien", so Andreas Wehr, brachen zusammen, als die europäischen Banken ihr Kapital abzogen. Er analysiert die Krise und macht deutlich: Griechenland ist überall.

Harald Neuber

Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro, Papyrossa Verlag, Köln, 179 Seiten, 12,90 €