Ausgabe 05/2011
Wir machen die Bude dicht
Große Kundgebung am zweiten Tag des Streiks: 2500 Krankenschwestern, Pfleger und Auszubildende kämpfen für 300 Euro mehr und für einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der CFM
von J enny Mansch
"Was sagst du, wo ist die Liste? Ich kann dich nicht verstehen, hast du einen Standort, an dem weniger Gepfeife zu hören ist?" Uwe Ostendorff klemmt sich das Handy dicht ans Ohr. Der blonde Streikleiter mit dem Kinnbärtchen sitzt in der Eingangshalle des Campus Benjamin Franklin der Charité im Berliner Bezirk Steglitz und telefoniert mit dem Streikleiter vom Campus Berlin Mitte. Vor ihm liegen Papiere in Stapeln: Streiklisten fürs Streikgeld, OP-Notpläne und Formulare für den Spontaneintritt in die Gewerkschaft. Es ist der erste Vormittag des Streiks an drei Standorten des Universitätsklinikums Charité. 40 Spontaneintritte hat Ostendorff schon in der Tasche.
Die Haupthalle des idyllisch im Grünen gelegenen Krankenhauses ist proppevoll. Im Wartebereich sitzen und stehen die streikenden Kolleginnen, Kollegen und viele Azubis, die Raucher unter ihnen stehen vor der Tür. Stullenpakete werden ausgepackt, die roten ver.di-T-Shirts übergezogen, und zwei Krankenschwestern stricken kleine komplizierte Socken. "Da kann ich nebenbei die aktuelle Lage diskutieren", sagt eine von ihnen und lächelt. An vielen kleinen Ständen gibt es Informationen, hier und dort wird am Outfit gefeilt. Vielen steht "Streik" in gebastelter Form auf der Stirn. Alle zucken zusammen, als einer der Kollegen seine Vuvuzela ausprobiert. Im Hintergrund üben einige zur Gitarre ein Streiklied für die Demo durch den Kiez am Nachmittag.
Streikleiter Ostendorff ist derweil im Stress. Er ist auch der Verbindungsmann zwischen den diensthabenden Ärzten und den Krankenschwestern, Pflegern und Technikern. Damit keiner der Patienten unter dem Arbeitskampf zu leiden hat, wurde vorher eine detaillierte Notvereinbarung mit dem Arbeitgeber getroffen. Die wird schon am ersten Tag des Streiks von den Ärzten ausgereizt bis zum Gehtnichtmehr. "Das normale OP-Programm ist gestrichen", sagt Ostendorff, "laut Vereinbarung sollten heute sieben Operationen stattfinden, nun sind schon neun angefragt und es ist noch nicht mal Mittag." Auch die Intensivstation wurde voller belegt als abgesprochen, nun muss die Clearingstelle ran und entscheiden, ob und wer noch zusätzlich operiert werden kann und wie viele Fachkräfte man dazu aus dem Streik abziehen muss. Das klärt der Streikleiter jetzt mit Kerstin Imruck. Die 43-jährige OP-Schwester ist gerade gekommen: "Melde mich zum Streik", sagt sie, Ostendorff nickt und trägt sie mit ihrer üblichen Wochenarbeitszeit in seine Liste unter Bereitschaft ein. "Wenn's brennt", sagt er, "muss sie in den OP." Die Clearingstelle wird viel zu tun bekommen in den nächsten Tagen.
Pfleger Immerfroh und Schwester Sonnenschein
Umso mehr ärgert es die Beschäftigten, dass der Arbeitgeber nun versucht, ihnen Leichtfertigkeit im Umgang mit Patienten zu unterstellen. "Von unserer Seite wurde und wird alles getan, um die Versorgung der Patienten zu sichern. Wie immer", sagt eine der Schwestern. "Dass die Krankenhausleitung trotzdem Probleme kriegt, war doch klar." Weil schon im Vorfeld des Streiks Einschüchterungen und Kündigungsdrohungen ausgesprochen worden waren, kommen sie ihrer Pflicht nach, ein Namensschild zu tragen. Nun heißen alle Pfleger "Immerfroh" und die Schwestern "Sonnenschein". Monatlich 300 Euro unter dem bundesweiten Branchenniveau verdient das nichtärztliche Personal an der Charité. Das heißt, in jedem anderen Krankenhaus der Stadt und des Landes bekommen Krankenschwestern und Pfleger 14 Prozent mehr Geld.
Die Schwestern Sonnenschein: Elke Thorwirth und Jacqueline Granow
Darüber regt sich nicht nur Jacqueline Granow auf. Die 29-jährige Krankenschwester hat sich ein rotes Kreuz an die Stirn geheftet und diskutiert mit ihren Kolleginnen an der frischen Luft. "Wir arbeiten auf der Intensivstation und kriegen die Folgen des jahrelangen Personalabbaus direkt zu spüren", erzählt sie. "Da werden Leute von der Wachstation nicht mehr eingearbeitet, weil so viel Personal fehlt. Und für 300 Euro weniger will keiner mehr hier anfangen, also werden es immer mehr Patienten für immer weniger Fachkräfte." Noch dazu werde eine neue Intensivstation eingerichtet mit Vier-Bett-Zimmern. "Wenn ein Patient kontinuierlich zu überwachen ist, geht das einfach nicht. Da möchte keiner einen Angehörigen liegen haben", sagt sie. Ihre Kollegin Elke Thorwirth aus der Anästhesie- und Intensivpflege ergänzt stinksauer: "Wir retten und pflegen unsere Patienten und für die Arbeit kriegen wir einen Arschtritt!" Simone Deichgräber, ebenfalls aus der Intensivpflege, stellt klar: "Es geht für uns um Gleichstellung. Wir kämpfen für das, was andere schon lange kriegen." Sie beklagt auch die Zurückhaltung der Ärzte, "da hätte ich mir mehr Solidarität gewünscht."
Nicole Matzke kommt mit ihrer Thermoskanne und ärgert sich darüber, dass die Notvereinbarung von den Ärzten und dem Vorstand ignoriert wird. "Wir hatten vereinbart, dass wir 23 Betten für OPs und Innere zur Verfügung stellen. Belegt waren heute Morgen 58!" "Vorhin hat mir ein Arzt sogar mit der Polizei gedroht", erzählt eine andere, "wegen unterlassener Hilfeleistung, weil ich die ärztlichen Tätigkeiten an ihn zurück delegiert habe. Der hat dann aber von oben einen draufgekriegt." So geht das in einer Tour. Kolleginnen kommen und berichten aus ihren Stationen, welche Betten "freigeschaufelt" und welche entgegen der Absprache einfach nicht geräumt wurden. Die nicht geräumten überwiegen, auch diese Fälle müssen in die Clearingstelle.
In Eingangsnähe beziehen drei große Blaumänner Aufstellung. Sie sind Mitarbeiter des Charité Facility Managements (CFM). In die 2006 gegründete Tochtergesellschaft wurde das gesamte technische Personal ausgegliedert, um Neueingestellten wesentlich geringere Löhne zahlen zu können und ihnen bis heute einen Tarifvertrag zu verweigern. Von Urlaubs- oder Weihnachtsgeld träumen die CFMler bislang nicht mal nachts. Die drei Blaumänner sind heute hier, um die neu eingestellten Kolleg/innen zu unterstützen. Sie selbst arbeiten zwar unter ihren Charité-Verträgen und verdienen etwas besser. Aber sie ärgern sich kriminell über ein Flugblatt, das auch hier die Runde machte und manch einen eingeschüchtert hat. Es kommt von der DGB-Gewerkschaft IG BAU, die überwiegend Reinigungs- und Transportkräfte organisiert. Sie verkündet auf dem Zettel, der Streik sei "illegal". Wer sich dennoch beteilige, dem drohe Arbeitsplatzverlust. Viele der neuen CFMler hat daraufhin der Mut verlassen. Streikleiter Ostendorff ist konsterniert: "Das hat eine neue Qualität. Die IG BAU begründet das mit einem Formfehler, was aber Unsinn ist, da sie die Aufforderung zur Tarifverhandlung selbst mit unterschrieben hat."
Straßenblockade in Mitte
Derweil geht auf dem kleinen Zebrastreifen vor der Charité in Berlin-Mitte gar nichts mehr. Die streikenden Beschäftigten aus dem Bettenhochhaus, das auf vielen Postkarten zu sehen ist, ziehen über die Straße und blockieren sie unter Absingen fröhlicher Streiklieder. Die Autos müssen solange warten. Aus einem schwarzen Dienstwagen wird ein Wichtigausweis in die Luft gestochen und aggressiv auf den Menschenzug zugefahren. Einige Demonstranten springen zur Seite. Doch der Ministau ist nur ein Vorgeschmack dessen, was am Nachmittag auf die Straßen der Hauptstadt zukommen soll.
Im Bettenhaus macht sich eine Abordnung aus ver.di-Betriebsgruppenleitung, Pflegern und Schwestern auf den langen Weg durch alle Etagen. Sie sind noch unzufrieden mit der Anzahl der bestreikten Betten und wollen sehen, ob nicht die persönliche Ansprache der Stationsleitungen zu einer deutlichen Steigerung führt. Ob da eher männlicher Charme oder kollegialer Druck angesagt ist, das werden sie ja sehen. Es ist eine Mischung aus beidem. "Hallöchen!", flötet der Betriebsgruppenleiter in jedes Schwesternzimmer. "Wir wollten mal hören, wie viel Betten wir hier noch kriegen können." Blätter rascheln, Rede, Widerrede, Ergebnis: 4 Betten auf Station 134. Applaus bei der Abordnung und weiter geht's, nächste Station. 13 Betten auf der 132! Jubel im leergefegten Stationsflur, los weiter, weiter! 10 Betten in der Neurologie! Na, geht doch.
Die Liste der bestreikten Betten geht auch hier vom Streikleiter weiter an den ärztlichen Direktor, dann wieder retour an die Stationen, alle wissen Bescheid und können ihre Maßnahmen treffen.
Der Patient Charité ist zusammengebrochen, hier wird er reanimiert. Da ging auf der Seestraße nichts mehr
Nichts geht mehr
Am Nachmittag herrscht großes Gedränge vor der Glashalle auf dem historischen Gelände der Virchow-Klinik im Wedding. Der Demozug durch den Kiez, den jeder Campus täglich veranstaltet, ist startklar. Auf einem Krankenhausbett liegen zwei Puppen ohne Unterleib, die künstlich beatmet werden und an allerlei Blinkwerk angeschlossen sind. Stefan Gummert ist hier der Streikleiter vor Ort und beweist echte Bühnenqualitäten. Er führt den Zug durch die Einkaufsstraßen an und ruft die Erfolge des Tages in sein Megaphon: "Wir machen diesem Scheißladen die Bude dicht!" Die Demonstranten skandieren: "300 Jahre - 300 Euro" und "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Löhne klaut". Dann zählt der sonst warmherzig pflegende Gummert auf: "Tagesklinik 58!" Die Menge schreit: "GESCHLOSSEN!", "Tagesklinik 41 b!" "GESCHLOSSEN!" Der Lärm ist ohrenbetäubend. Den Straßenrand im alten Arbeiterbezirk säumen Migranten, Kinder und Säufer, die erstaunt aus der Wäsche gucken. Ein Neonazi rollt parallel zur Demo auf dem Skateboard längs und glotzt, in der Hand eine Imbiss-Box vom Chinesen.
"Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Löhne klaut!"
Müller-, Ecke Seestraße ist ein neuralgischer Verkehrsknotenpunkt. Die Seestraße entlang quälen sich zu jeder Tageszeit die Autos im Dauerstau bis durch zur Autobahnauffahrt. Genau hier schlägt Stefan Gummert plötzlich Alarm: "Oh, der Patient ist zusammengebrochen, die Charité atmet nicht mehr. Da müssen wir wohl reanimieren." Die Puppen werden von Pflegern herzmassiert, Spritzen werden gezückt, die Beatmungsbälger werden gedrückt. Zum Lärm der Demonstranten gesellen sich die Autohupen der ausgebremsten Wagenkolonnen. Zurück geht's über die Seestraße, bis zur Klinik ein Fußweg von rund 20 Minuten. Die Stadt ist mittlerweile in allen Himmelsrichtungen verstopft. Das schmerzt über den Prenzlauer Berg hinaus und zwickt bis weit in den Süden der Stadt. Auch der Weg zum Flughafen führt hier entlang. Die Verkehrsmeldungen im Radio dauern heute länger als sonst.
Am Nachmittag des zweiten Streiktages treffen sich alle drei Campi zum Sternmarsch im Wedding. Die Anspannung ist über den Tag weiter gewachsen, auf allen Seiten. Das Gerangel um Betten und Stationen wird zunehmend stärker, Drohungen nehmen zu, eine Kollegin aus dem Vivantes-Krankenhaus überbringt Soligrüße, alle möglichen Gruppen bekunden Solidarität.
Verhandlungsführer Carsten Becker und Streikleiter Stefan Gummert
Ein großer Tisch muss her
Vor dem Schering-Haus versammeln sich rund 2500 Beschäftigte in vollem ver.di-Harnisch, einige im dbb-T-Shirt. Auch verbeamtete Beschäftigte streiken mit, ihre Gewerkschaft ist der Deutsche Beamtenbund. Auf der Bühne berichtet ver.di-Verhandlungsführerin Bettina Weitermann: "Unser Arbeitgeber hat mit einer solchen Resonanz nicht gerechnet. Und er bittet uns, an den Verhandlungstisch zurückzukehren." "Da müssen'se aber'n jroßen Tüsch holen", tönt ein CFMler. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Ellen Paschke stellt in ihrer Rede klar, dass es einer politischen Entscheidung zu einer öffentlichen Gesundheitsversorgung Berlins seitens des Senats bedarf. Lange genug habe man versucht, die Beschäftigten mit dem Verweis auf Berlins klamme Finanzlage abzuspeisen. Aber man könne sich nicht als "Europas größte Universitätsklinik" preisen und Spitzenmedizin anbieten, aber nur drittklassige Löhne zahlen und zusehen, wie hier ausgebildete Fachkräfte weggingen und in anderen Krankenhäusern der Stadt ein besseres Gehalt verdienten. Alle Redner/innen an diesem Tag rennen offene Türen ein. Ein Kollege vom Emil-von-Behring-Krankenhaus soll auf der Kundgebung Grüße ausrichten: "Es war gestern die Hölle, aber wir versorgen eure Patienten gerne mit." Der Betriebsrat von Vivantes ist"neidisch auf euren Weg, anders verstehen die uns nicht". Und wenn das so weiterginge, dann streikten sie mit, wodurch weitere 13.000 Beschäftigte der Vivantes-Kliniken in den Ausstand gingen. "Yeah!" ruft eine Betriebsgruppenvorsitzende der Gewerkschaft kommunaler Landesdienste.
Bis zum vierten Streiktag gewinnt der Streik weiter an Dynamik. Von 3200 Betten werden jetzt 1540 bestreikt. Täglich streiken mehr CFMler; der Versuch, sie durch Leiharbeiter zu ersetzen, wird verhindert. Auch die Poststellen und die Charité- Akademie streiken nun mit. Am fünften Tag, kurz vor dem Wochenende, signalisiert der Arbeitgeber ein "ernst zu nehmendes Angebot", so ver.di-Verhandlungsführer Carsten Becker. Bei einer Streikversammlung wird beschlossen, den Streik der Nichtärztlichen vorläufig auszusetzen. Da die Forderungen der CFMler nach einem Tarifvertrag im Angebotspaket aber nicht enthalten sind, machen die Service-Beschäftigten unbeeirrt weiter. "Und zwar mit hoher Solidarität der Krankenschwestern und Pfleger", so Becker.
Die Forderungen
- Tarifvertrag angeglichen an das Branchenniveau des TvöD
- + 300 Euro monatlich, Jahressonderzahlung in vollem Monatsgehalt
- Übernahme der Azubis und Vergütung auf dem Niveau des Öffentlichen Dienstes
- keine Unterschiede zwischen Ost und West im Tarifvertrag
- Verbesserungen bei Arbeitszeit, Urlaub und Arbeitsbefreiung, sie muss der steigenden Arbeitsbelastung Rechnung tragen
- Keine Lückenfüllung durch Teilzeitbeschäftigte: Jede Mehrstunde ist eine Überstunde
Das Angebot
Statt der 14 Prozent Angleichung an den TVöD bot der Arbeitgeber 3 Prozent mehr Geld linear steigend. Dafür keine Stufensteigerung zum 1. 1. 2011. Ein Teil der Jahressonderzahlung 2011 soll für die Finanzierung der linearen Erhöhung genutzt werden. Daraufhin wurde der Streik ausgerufen. Ein neues Angebot ist zurzeit Grundlage der Verhandlungen. Diese dauerten zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses noch an.
Der Umsatz der Charité beträgt 1,2 Milliarden Euro im Jahr. Die jährlichen Defizite wurden seit 2008 von 56 Millionen Euro auf 17 Millionen Euro im Jahr 2010 abgeschmolzen - zu Lasten der rund 10 000 nichtärztlichen Beschäftigten.