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Vorläufig im unbefristeten Streik – Charité- und Vivantes-BeschäftigteFoto: Christian Mang

"Erster Tag im Arbeitskampf und gleich bei ver.di", ruft die Kinderkrankenpflegerin Kathrin Giersiepen-Schnirch unter lautem Jubel hunderter Krankenhausbeschäftigter ins Mikrofon. Es ist der 9. September, der erste Tag des unbefristeten Streiks bei Charité und Vivantes sowie in den Vivantes-Tochtergesellschaften in Berlin. Weit über 1.000 Kolleginnen und Kollegen haben die Arbeit niedergelegt, um für einen Tarifvertrag Entlastung und die Bezahlung aller Beschäftigten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) Druck zu machen. Es ist Kathrin Giersiepen-Schnirchs erster Streik überhaupt. Spontan füllt sie auch gleich den ver.di-Mitgliedsantrag aus. "Ich habe immer mal darüber nachgedacht, mich zu organisieren. Auf der Demo dachte ich: Das mache ich jetzt."

Die Kinderkrankenpflegerin ist das zweitausendste neue ver.di-Mitglied, das im Zuge der Tarifauseinandersetzung an den Berliner Kliniken seit Anfang März beigetreten ist, 1.000 Mitglieder sind allein in den vergangenen zwei Monaten hinzugekommen.

Eine Pflegekraft, 16 Mütter & Säuglinge

Dass sich in den Krankenhäusern etwas ändern muss, ist der 58-Jährigen und ihren Kolleginnen schon lange klar. "Aber man findet immer Gründe, doch nichts zu tun. Mit der Corona-Pandemie ist die Situation noch schlimmer geworden. Ich denke, das hat viele dazu gebracht, zu sagen: Jetzt reicht´s!" Die Beschäftigten bei Charité und Vivantes fordern einen Tarifvertrag, der auf den Stationen und in den Bereichen konkrete Mindestbesetzungen festschreibt. Werden diese unterschritten, sollen die Betroffenen zusätzliche freie Zeit als Belastungsausgleich erhalten. Das hilft bei der Erholung und erhöht den Druck auf die Klinik, mehr Personal einzustellen. Solche Tarifregelungen haben sich bereits an anderen Krankenhäusern bewährt, zum Beispiel an den Unikliniken Jena und Mainz.

Im Mutter-Kind-Zentrum des Vivantes-Klinikums Neukölln hat das Team von Kathrin Giersiepen-Schnirch ausgerechnet, wie viel Personal nötig ist, um gut arbeiten zu können. Im Frühdienst müssten neben der Leitung demnach sechs Fachkräfte da sein, im Spätdienst fünf und im Nachtdienst vier. "Damit wäre es einigermaßen schaffbar, die bis zu 40 Frauen und ihre Säuglinge angemessen zu versorgen", sagt die Kinderkrankenpflegerin.

Derzeit ist die Realität jedoch eine völlig andere. Im Frühdienst sollen planmäßig fünf Fachkräfte da sein, oft sind es aber nur drei oder vier. "Wenn wir nicht noch Unterstützung von Servicekräften hätten, würde das gar nicht gehen." Im Spätdienst sind schon laut Plan nur vier Pflegekräfte eingeteilt, obwohl kaum weniger zu tun ist als am Vormittag. Und nachts sind lediglich drei Kolleginnen auf der Station, was bedeutet, dass eine Pflegekraft einen Flur mit 16 Betten regulär allein betreuen muss. "Bis zu 16 Frauen, viele nach einer Kaiserschnitt-OP, Schmerzmittel geben, pflegen, die Kinder versorgen – das alles allein ist schon krass."

"Man findet immer Gründe, doch nichts zu tun. Mit der Corona-Pandemie ist die Situation noch schlimmer geworden. Ich denke, das hat viele dazu gebracht, zu sagen: Jetzt reicht´s!"
Kathrin Giersiepen-Schnirch, Kinderkrankenpflegerin

Angesichts dieser Zustände habe sie sich "endlich dazu durchgerungen, mitzumachen", sagt die Kinderkrankenpflegerin. Als nächstes will sie auch ihre Kolleginnen im Team motivieren, am Streik teilzunehmen. Das umzusetzen, sei aber gar nicht so leicht. "Wir können den Betrieb gerade so aufrechterhalten. Während der Arbeitszeit kann da kaum einer rausgehen", erklärt sie. "Im Grunde können wir nur in unserer Freizeit demonstrieren."

Zehn Stationen komplett stillgelegt

Mit diesem Dilemma sind auch viele andere Teams konfrontiert. Doch sie haben eine Antwort gefunden: Die Pflegekräfte kündigen frühzeitig an, wie viele sich am Streik beteiligen wollen, und fordern den Arbeitgeber auf, die Bettenbelegung entsprechend zu reduzieren – bis hin zur Schließung der ganzen Station. Bereits während eines dreitägigen Warnstreiks im August wurden bei Vivantes und Charité auf diese Weise über zehn Stationen komplett stillgelegt. Auch in den Tochtergesellschaften hat der Streik massive Auswirkungen. Dabei stellt ver.di in allen Bereichen sicher, dass niemand zu Schaden kommt und die Notfallversorgung gesichert ist.

"Bei uns ist die Streikbereitschaft sehr hoch", sagt Jenniffer Lange, die für die Vivantes Speiseversorgung und Logistik GmbH arbeitet. "Wir wollen endlich den gleichen Lohn für die gleiche harte Arbeit haben", sagt die Bistromitarbeiterin. "Die Kollegin mit TVöD kassiert genauso das Geld ab wie ich, sie bestückt die Salatbar genauso, sie schneidet den Kuchen genauso, sie macht die Spülmaschine genauso an wie ich – und ich frage mich, warum ich 900 Euro weniger im Monat dafür bekomme." Das fragen sich offenbar viele Kolleginnen und Kollegen in den Tochtergesellschaften. Deshalb stimmten sie Anfang September mit einer überwältigenden Mehrheit von 98,82 Prozent für den unbefristeten Arbeitskampf. Die Gewerkschaftsmitglieder bei Vivantes und Charité haben ihre Entschlossenheit mit ähnlich hohen Zustimmungsraten von 98,45 beziehungsweise 97,85 Prozent demonstriert. Entsprechend groß ist die Streikbeteiligung.

Gericht bestätigt Recht auf Streik

Bis Redaktionsschluss stellen die Klinikleitungen dennoch auf stur. Die Vivantes-Spitze versuchte gar, Arbeitsniederlegungen juristisch untersagen zu lassen, doch das Berliner Arbeitsgericht bestätigte, dass auch Krankenhausbeschäftigte ein Grundrecht auf Streik haben.

Die Intensivpflegerin Dana Lützkendorf von der Charité sieht neben den Arbeitgebern auch den Berliner Senat in der Pflicht, für eine gute Lösung der Tarifkonflikte zu sorgen. "Bereits bei Verkündung des 100-Tage-Ultimatums im Mai vor dem Roten Rathaus haben sich Vertreter der Senatsparteien unisono für den Tarifvertrag Entlastung und den TVöD für alle ausgesprochen", betont sie. Nun müsse die Landesregierung auf die Vorstände der landeseigenen Kliniken entsprechend einwirken. "Wir messen die Politiker an ihren Versprechungen", so die Intensivpflegerin. "An diese werden wir sie auch in diesen Wochen des Wahlkampfes immer wieder erinnern."

Am 26. September wird nicht nur der Bundestag, sondern auch das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Die Krankenhausbewegung hat die Lage im Gesundheitswesen dabei zu einem bestimmenden Wahlkampfthema gemacht. Für Lützkendorf ein erster Erfolg: "An uns kommt keiner mehr vorbei."

Die 4 wichtigsten Fragen und Antworten

Was will die Berliner Krankenhausbewegung?

ver.di fordert für die Beschäftigten von Charité und Vivantes, die sich zur "Berliner Krankenhausbewegung" zusammengeschlossen haben, einen Tarifvertrag Entlastung. Dieser soll Mindestpersonalbesetzungen für Stationen und Bereiche festschreiben. Falls Beschäftigte dennoch in unterbesetzten Schichten arbeiten müssen, erhalten sie einen Belastungsausgleich in Form zusätzlicher Freizeit. In den Vivantes-Tochtergesellschaften fordert ver.di, dass für alle Beschäftigten der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) gilt. Derzeit liegen die Monatsentgelte meist mehrere hundert Euro unter dem Niveau des Flächentarifvertrags.

Was bedeutet das für die Menschen in Berlin?

Eine gute Gesundheitsversorgung gibt es nur mit genug und angemessen bezahltem Personal – in allen Bereichen und Beschäftigtengruppen. Der Zusammenhang von Personalausstattung und Behandlungsergebnis ist vielfach wissenschaftlich belegt. Daher sind alle potenziell betroffen.

Wie kann das finanziert werden?

Die Corona-Pandemie hat noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig ein gut funktionierendes Gesundheitswesen ist. Die dafür notwendigen Ausgaben sollten es der Gesellschaft wert sein. ver.di hat politisch erreicht, dass die Personalkosten für die Pflege am Bett vollständig refinanziert werden. Das macht es den Kliniken leichter, mehr Pflegepersonal einzustellen.

Können die Probleme allein durch Tarifverträge gelöst werden?

Nein. Überall arbeiten Klinikbeschäftigte am Limit, werden insbesondere Servicekräfte schlecht bezahlt. Um das zu ändern, fordert ver.di einen grundlegenden politischen Richtungswechsel. Die Kommerzialisierung muss zurückgedrängt, das Finanzierungssystem über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) durch eine bedarfsgerechte Finanzierung ersetzt werden. Es braucht gesetzliche Personalvorgaben, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Dafür macht ver.di auf politischer Ebene weiter Druck.

Aktuelle Infos zur Krankenhausbewegung für Entlastung

In Berlin: berliner-krankenhausbewegung.de

Bundesweit: klinikpersonal-entlasten.verdi.de