Raul Zelik ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens

In den vergangenen Wochen sind in Madrid, Barcelona, Athen und anderen südeuropäischen Städten Hunderttausende auf den Straßen gewesen. Ihre Hauptforderung - Schluss mit der EU-verordneten Umverteilungspolitik zugunsten des Finanzkapitals - ist nicht neu, und doch ist eine neue Form von Bewegung sichtbar geworden. Der 15-M, wie sie in Spanien genannt wird, geht es nämlich nicht einfach darum, Regierende zu einer anderen Politik zu be- wegen oder eine andere Partei ins Amt zu bringen. Sie stellt die bürgerliche, repräsentative Demokratie als solche in Frage.

Die Demonstrierenden sind auf der Straße, weil sie sich von Parteien, Medien, aber auch den großen Gewerkschaften nicht mehr vertreten fühlen. Sie eint die Überzeugung, dass es belanglos geworden ist, ob Sozialdemokraten oder Konservative, Rechte oder Linke regieren. Sie sind empört, dass nicht Mehrheiten, sondern die Interessen von Fonds, Großunternehmen und Banken politische Entscheidungen bestimmen. In Europa haben solche Erkenntnisse zuletzt vor allem zu Politikverdrossenheit und einem Erstarken rechtspopulistischer Parteien geführt. Die Bewegung 15-M weist nun einen radikal anderen Weg auf: Hunderttausende kommen zusammen, um sich politisch einzumischen, mit anderen über die eigene Lage zu diskutieren und solidarische Lösungen zu suchen. Denn anders als der Rechtspopulismus definiert sich die Bewegung 15-M eben nicht über eine Abgrenzung gegenüber Schwächeren wie Einwanderern oder Sozialhilfeempfängern.

Noch ist unklar, wohin dieser Aufbruch führen wird, der sich gegen Berufspolitik, die Entpolitisierung der Politik und nicht zuletzt das große Kapital richtet. Doch in vieler Hinsicht erinnern die Bilder an Lateinamerika. Auch dort revoltierte die Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren immer wieder gegen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktierten Kürzungs- und Privatisierungsprogramme; auch dort ging es um soziale wie politische Rechte. In Lateinamerika führte der antiinstitutionelle Widerstand schließlich zu einer Neubestimmung der Sozialpolitik. Die Proteste führten aber auch zu einem politischen Bruch: Neue Verfassungen wurden verabschiedet, demokratische Rechte erweitert.

Es gibt jedoch auch noch eine dritte Parallele, die vor allem für die Gewerkschaften von Belang ist: Wie heute in Spanien waren auch die lateinamerikanischen Gewerkschaften von der Krise des politischen Systems betroffen. Der Widerstand entwickelte sich, gerade weil sich die Bevölkerung auch von ihnen nicht mehr vertreten fühlte. Insofern sind die Ereignisse in Spanien eine Herausforderung für alle. Die Energie dieser Bewegung speist sich daraus, dass sie außerhalb von Organisationen entstand. Natürlich nehmen Gewerkschaftsmitglieder an Diskussionen und Protesten teil. Aber ihre Organisationen spielen keine Rolle. Jede und jeder soll für sich sprechen, jede und jeder soll sich als Person demokratisch beteiligen.

Aktivisten erzählen, dass gerade dies das Bewegende in diesen Tagen sei. Die 15-M schaffe auf radikale Weise Demokratie. Völlig unerwartet ist es in Spanien zu einer Rückkehr der Politik, zu einer Wiedergeburt der Räte gekommen. Erstaunlich gelassen, diszipliniert, aber auch produktiv debattieren Zehntausende auf öffentlichen Plätzen über die gesellschaftliche Krise. Allein in Madrid gab es Ende Mai zeitgleich 100 Stadtteilversammlungen.

Auch in Spanien hätte man das vor wenigen Wochen noch für undenkbar gehalten. Die Gesellschaft und vor allem die Jugendlichen schienen entpolitisiert. Doch die Realität hat diese Einschätzung Lügen gestraft. Zehntausende haben einen unstillbaren Durst, mit anderen über Kapitalismus und Globalisierung zu diskutieren und sich gegenseitig zuzuhören. Facebook und Twitter mögen eine wichtige Rolle dabei gespielt haben. Doch letztlich ist es weit mehr als eine Internet-Revolution. Die Menschen begegnen sich direkt und spüren Empathie füreinander.

"Wir haben gelernt, zusammenzukommen und zu reden", hieß es in einer Erklärung der Bewegung 15-M dieser Tage. Vermutlich ist das die zentrale Lehre aus den Ereignissen: Dass es selbst dort möglich ist, politisch zusammenzukommen, wo man das aufgrund allgemeiner Apathie für undenkbar hält. Und dass sich in Anbetracht der Krise repräsentativer Politik die Räte als ungeahnt aktuell erweisen können.

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Sie sind empört, dass nicht Mehrheiten, sondern die Interessen von Banken politische Entscheidungen bestimmen