Seit 20 Jahren eine Lobby für Arme in Deutschland von Kai Friedrich Schade

"Deutschland verabschiedet sich vom Kampf gegen Armut und Ausgrenzung", erklärte die Nationale Armutskonferenz (nak) auf ihrer Delegiertenkonferenz in Berlin. Die Delegierten hatten bei ihrer Kritik an der Bundesregierung deren Entwurf des "Deutschen Nationalen Reformprogramms" als Beitrag zur Strategie "Europa 2020" im Blick. Das Ziel dieser Absichtserklärung der EU-Mitgliedsstaaten ist es, die Zahl von derzeit 60 Millionen Armen in Europa bis 2020 auf 20 Millionen zu vermindern. Die nak redet Klartext, wenn es um Ungerechtigkeit geht, von Anfang an. Der liegt jetzt 20 Jahre zurück.

"Kurios war es damals", erinnert sich Ulrich Schneider. "In Wildweststimmung fühlte ich mich versetzt, konnte ich doch alles machen, was ich wollte." 1991 baten Brüsseler Kreise den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) um Vorschläge für eine deutsche Beteiligung am Europäischen Netzwerk zur Armutsbekämpfung (EAPN). Die Nichtregierungsinstitution war 1989 angesichts der ungleichen Einkommensverhältnisse in der EU und der zunehmenden Verarmung gegründet worden, auf Initiative der EU-Kommission. Ulrich Schneider sagt: "Man hätte aus Brüssel ja auch beim Arbeitgeberverband oder bei der Deutschen Bank anfragen können! Aber sie kamen zu uns." Er nutzte die Gelegenheit und entwickelte die Idee einer sozialpolitischen Lobby für die Armen in Deutschland - in Gestalt der Nationalen Armutskonferenz, die zugleich als deutsche Sektion des europäischen Netzwerks EAPN fungiert.

Von Anfang an ging es darum, politisch für die Armen in der Bundesrepublik einzutreten, mit wachsamem Blick Richtung "Berlin", ohne die europäische Dimension des Themas aus den Augen zu verlieren. Dem Motto der neuen Organisation "Armut ist falsch verteilter Reichtum" folgten sogleich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der nak-Gründungsmitglied wurde, die Arbeiterwohlfahrt, die Kirchen mit der Caritas und dem Diakonischen Werk. Die Wohlfahrtsverbände sahen ihre Verpflichtung und die Chance zu zusätzlichem Engagement. Auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, das Deutsche Rote Kreuz und weitere Organisationen kamen hinzu. Damit war sie stattlich aufgestellt, die nak, die im Mai dieses Jahres zudem die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen und "Gesundheit Berlin-Brandenburg" als neue Mitglieder aufgenommen hat und zurzeit 16 ordentliche Mitglieder aufweisen kann.

Die unbekannte Erfolgsgeschichte

Trotzdem - wer kennt die nak? Wer gefragt wird, stutzt meist hilflos. Und doch sind die 20 Jahre der nak eine Erfolgsgeschichte. "Sie hat erheblich dazu beigetragen, das Thema Armut zu enttabuisieren", bilanziert Schneider, der heute Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist. Zuvor habe man auch in Deutschland das Phänomen Armut lange verleugnet oder die Armen als Randerscheinung, als etwas Schmuddeliges verächtlich beiseitegeschoben: "Wirkliche Armut? Wo denn? Ja, einzelne Wenige, aber vor allem sind da zu viele Schwarzmaler, die nur meckern", hieß es bei Wohlhabenden bis hinauf in Regierungskreise. Heute ist das anders. Ähnlich positiv wie Schneider sieht das auch der DGB-Vertreter in der nak, Johannes Jakob: "In der nak arbeiten viele gesellschaftliche Kräfte - vertreten sind auch die Betroffenen - an gemeinsamen Positionen und Vorschlägen für politische Lösungen. Das macht die Konferenz zu einer moralischen Instanz. Ihre öffentlichen Stellungnahmen rütteln auf - und rütteln an den Rahmenbedingungen, die Armut hervorbringen."

Die Nationale Armutskonferenz hat der Öffentlichkeit vielfältige Formen zunehmender Armut bewusst gemacht und die Bundesregierung zur regelmäßigen Vorlage eines Armuts- und Reichtumsberichts herausgefordert - unbequeme Mitsprache bei sozialpolitischen Themen wie Grundsicherung, Mindestlöhne und Hartz IV eingeschlossen. Verändert hat die nak dabei vor allem das Klima in der Öffentlichkeit zugunsten der Fragen von Reichtum und Armut, was vielen Menschen unter die Haut ging. Das lag auch an dem ethisch fundierten Engagement des vorigen Sprechers der nak, des Theologen Wolfgang Gern, der diese Funktion vier Jahre lang bis Anfang 2011 ausgefüllt hat. Wenn die nak sich künftig besonders dem "Treffen der Menschen mit Armutserfahrung" als Programmpunkt zuwenden wird, folgt sie einem seiner Anliegen.

Es wird Tacheles geredet

Neuer Sprecher der Konferenz ist Thomas Beyer von der Arbeiterwohlfahrt. Er will sie "stärker in die öffentliche Diskussion bringen". So hieß es zum Weltfrauentag: "Armut ist weiblich." In der Pressemitteilung "Alleinerziehend - arm - allein gelassen" schrieb die nak über die Armut von Kindern in Deutschland, die mit 16 Prozent viel höher liegt als die der Gesamtbevölkerung mit zehn Prozent. Angesichts des "Teufelskreises des Niedriglohns" fordert die nak, sämtliche Gesetzesvorhaben einem Armuts-TÜV zu unterziehen. Mit ihrer Einschätzung "Muttertag ist Makulatur" meldete sie sich in den Medien zu Wort. Und in den pauschalen Jubel über den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland hat sie nicht eingestimmt, sondern Tacheles geredet: "Geringverdiener ausgebootet - der Aufschwung wird auf dem Rücken von Hunderttausenden ausgetragen."

Für die Zeit bis zur nächsten Delegiertenkonferenz im Dezember plant die nak unter anderem eine "Woche der Schuldnerberatung". Ihr Grundsatzpapier über eine gesetzlich geregelte Grundsicherung ist in Vorbereitung. Eine der fünf ständigen nak-Arbeitsgruppen befasst sich bei diesem Forderungskatalog vor allem mit den potenziellen Empfänger/innen der Grundsicherung: Wer gilt als gefährdet, wer ist von Armut betroffen? Was wird für die Kinder getan? Wie sind Menschen in Minijobs zu bedenken?

Durch Armut ausgegrenzt

Die Arbeit der nak - alles nur Papier? Die Wirkung von verantwortungsvoll erarbeiteten Stellungnahmen sollte nicht unterschätzt werden. Aufrufe, Analysen, Vorschläge, Kritik, Forderungen und die unabhängige Mitarbeit in Gremien wie dem Beirat der Bundesregierung zur Erarbeitung des Armuts- und Reichtumsberichts haben neben der Öffentlichkeit einen klaren Adressaten: Politiker und Regierung. Und sie werden hartnäckig zu einer Reaktion veranlasst. Die nak lässt nicht locker. Es geht ihr ebenso um Konzepte zur arbeitsteiligen Armutsbekämpfung wie um überzeugendes Handeln der nak-Mitglieder, ein breites Spektrum einer sich solidarisch verstehenden Bürgergesellschaft.

Im Dezember 2011 wird die Nationale Armutskonferenz in Berlin ihr 20-jähriges Jubiläum begehen. Ihre Arbeit, die sich im besten Falle eines Tages überflüssig machen wird, ist heute wichtiger denn je. "Die Schere zwischen Reichtum und Armut klafft in Deutschland viel weiter auseinander als in anderen EU-Ländern, obwohl die gesamtgesellschaftliche Wertschöpfung noch nie so hoch gewesen ist wie heute", stellt Franz Segbers fest, Sozialwissenschaftler und Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz. Als "unglaublichen Skandal" bewertet er die "Re-Feudalisierung unserer Gesellschaft, ihren Rückfall um Jahrhunderte zurück in ihrem Feldzug mutwilliger Zerstörung der großen kulturellen Errungenschaft des Sozialstaates".

Bei den Stichworten Armut und Armutsbekämpfung darf es nicht nur um das materielle Minimum zum Überleben gehen. Darauf konzentrierte Aktivitäten dürfen nicht den Blick verstellen für die nicht-materiellen Entbehrungen und die Entrechtung von Menschen. Armut heißt, dass Start-, Entfaltungs- und Teilhabechancen, Lebenschancen insgesamt, ungerecht verteilt sind. Sie bringt Demütigung, Ausgrenzung und Erniedrigung des Menschen mit sich, wird als Aussichtslosigkeit und gesellschaftlich zugefügte Verletzung empfunden. Erhard Eppler, der einstige Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, verwies kürzlich darauf, dass drei Viertel der Deutschen der Ansicht seien, die Politik in ihrem Land sei ungerecht, und kommentierte: "Das hält keine Demokratie lange aus!"

Die Verwerfungen in einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union infolge ungerechter Verhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft kündigen dramatische Zerreißproben an - innergesellschaftlich wie in Griechenland, aber auch über nationale Räume hinaus. Deshalb warnt der nak-Sprecher unter Hinweis auf die zunehmende Verarmung in Europa vor dem "Export von Armut durch internationale Sparpakete". Millionen Franzosen haben Stéphane Hessels Aufruf "Empört Euch" gegen die Ungerechtigkeit aufgegriffen. Bei der Bekämpfung der Armut geht es um mehr als nachträglich korrigierende Sozialtransfers. Man müsse an den Wurzeln des Übels ansetzen, sagen die nak-Mitglieder. Sie sehen ihre Organisation als einen Anfang - und als weiterhin unerlässlich.

Nationale Armutskonferenz

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