Das Kernkraftwerk Biblis ist eines der AKWs, die nach dem GAU im japanischen Fukushima runtergefahren wurden. Nach dem jüngsten Beschluss der Bundesregierung sollen sie nicht wieder ans Netz gehen. Allein in Biblis müssten mehrere hundert Beschäftigte neue Arbeitsplätze finden

Büroblick auf den Reaktor von Block B

von Petra Welzel (Text)

Tag für Tag legen sie vor der ersten Schleuse Hemden und Hosen ab, Unterhosen und Badeschlappen lassen sie vor der zweiten Schleuse zurück, durch die sie dann sauber ausgestattet mit hellgelber Unterwäsche, orangefarbenen Socken, Sicherheitsschuhen und orangefarbenen Overalls in die Tiefe, ins Herz des Reaktorgebäudes einsteigen - die Männer, die im Kernkraftwerk Biblis für die Sicherheit sorgen. Sie gehen an ihren Arbeitsplatz, den sie vielleicht schon bald nicht mehr haben werden, weil der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen ist. Sie gehen dorthin, wohin wir, die Besucher, ihnen an diesem Vormittag Anfang Juni nicht folgen dürfen.

Wir gehen in den oberen Teil des Reaktorgebäudes, dürfen Hosen und Unterwäsche anlassen, müssen aber auch in einen orangefarbenen Overall schlüpfen, Helm, Sicherheitsbrille, Sicherheitsschuhe mit jeweils drei Überziehern und Handschuhe anziehen. In die durchsichtige Brusttasche des Overalls kommt der Geigerzähler, der so groß und dunkel wie ein Schokoladenbrownie ist. Dann geht es rauf in die Kuppel. Das Rauschen der Klimaanlage ist allgegenwärtig, hüllt uns, die Besucher, ein. Nur das Piepen eines liegen gelassenen Geigerzählers dringt durch und irritiert. Ist das schon der eigene Zähler, der sich meldet?

Fluchtweg für Personen

Der Weg führt durch eine weitere Schleuse wie in einem Raumschiff. Schmutzpartikel an den Sohlen bleiben vor dieser Schleuse auf einem etwa drei Schuh breiten Klebestreifen pappen. Das runde Schleusentor öffnet sich nur langsam, dahinter betreten die Besucher eine kleine Röhre, die sich am anderen Ende erst öffnet, wenn sich die andere Schleuse wieder vollständig geschlossen hat. Über mehrere Feuertreppen, immer auf grünen Streifen entlang, die den Fluchtweg markieren, steigen die Besucher bis auf die höchste Plattform, wo nur zum Teil mit Planen abgedeckt der 200 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns lagert. Der Blick nach unten in die runde Halle fällt auf den freigelegten Druckhalter des Reaktordruckgefäßes und gleich daneben auf das vom Wasser blau leuchtende Abklingbecken. Unter der Wasseroberfläche glitzern die Behälter mit den Brennelementen, die zuvor rechts im Reaktordruckgefäß steckten. In ihnen wurden bereits Urantabletten zur Energiegewinnung gespalten.

Erich Reinhardt, Strahlenschützer

Unweigerlich schweift das Auge zum Geigerzähler in der Brusttasche - keine Anzeige, kein Ausschlag. Block A im Kernkraftwerk Biblis wurde vor dreieinhalb Monaten abgeschaltet. Es wird hier kein Uran mehr gespalten, die Brennstäbe sollten nicht, sie dürfen nach außen nicht radioaktiv strahlen. Alles andere würde sofort den Strahlenschützer Erich Reinhardt, 62, auf den Plan rufen. In Windeseile müssten die Besucher dem Mann im grünen Overall auf den grünen Fluchtwegen folgen. Jetzt trägt er gelassen seinen Dosimeter wie ein Gewehr vor der breiten Brust, weist mal hier, mal dorthin, um zu zeigen, mit welchen Stahlkonstruktionen der Reaktor unlängst erdbebensicher gemacht wurde. Angst um seinen Arbeitplatz hat er nicht: "Bis ich in Rente gehe, werde ich hier noch gebraucht."

Das muss ein Irrtum sein

H.-D. Susemichel ehemaliger Beschäftigter

Es ist dieser Tage nicht leicht, zwischen berechtigter Sorge und akuter Alarmstimmung in Sachen Atomkraft einen sicheren Standpunkt zu finden. Unten glänzen in zwölf Meter Tiefe wie in einer Lagune noch immer hochradioaktive Brennelemente, um in Kühlwasser abzuklingen. Hans-Dieter Susemichel, 63, hat 1974 Block A in Biblis zum ersten Mal mit hochgefahren, vor 37 Jahren. Heute ist der immer noch jugendlich wirkende drahtige Mann in Rente, führt aber Besucher wie uns auf Minijobbasis durchs Atomkraftwerk. Unten am Rand des Abklingbeckens sagt er: "Reinfallen ist nicht so schlimm, aber untertauchen sollten Sie nicht." Was so viel heißt wie: Dort, unter Wasser strahlen die Brennelemente, wirkt ihre Strahlung, die man weder spürt, schmeckt, sieht noch riecht.

Personenschleuse im Sicherheitsbereich

Mehr als 10.000 Kilometer weit weg in Japan ist im Atomkraftwerk Fukushima in Folge von Erdbeben, Tsunami und Explosionen seit Mitte März in mittlerweile vier Abklingbecken das Kühlwasser entwichen, die Kerne in den Brennelementen schmelzen und strahlen - teils seit nunmehr bald vier Monaten. Im Umkreis von 30 Kilometern mussten zehntausende Menschen ihre Häuser und ihr Land verlassen. Sie werden nie mehr dorthin zurückkehren können. Die ersten Häuser der südhessischen 8000-Einwohner-Gemeinde Biblis stehen in nur drei Kilometer Entfernung vom Kernkraftwerk. Hans-Dieter Susemichels Haus steht gegenüber auf der anderen Seite des Rheins, an dem das Kernkraftwerk seine natürliche Grenze hat.

Er und seine Kollegen, die noch im AKW Biblis arbeiten, wie Erich Reinhard, äußern Verständnis für die Ängste der Menschen da draußen. Doch findet man unter den Beschäftigten nicht einen einzigen und keine einzige, die nach dem Fallout in Fukushima auch nur einen winzigen Moment lang an der Sicherheit ihres Atomkraftwerkes gezweifelt hätten. Sie alle haben nur eines gedacht: Das kann nicht wahr sein. Das muss ein Irrtum sein. Wie kann so etwas in Japan, einem hoch technologisierten Industrieland, passieren?

Als in Fukushima passiert, was eigentlich nicht passieren darf, befindet sich Jan-Peter Cirkel, zuständiger Pressesprecher im Energiekonzern RWE, der Biblis betreibt, mit seiner Frau im Kreißsaal, um seinen zweiten Sohn mit auf die Welt zu holen. Er holt ihn in eine sichere Welt, da ist sich Jan-Peter Cirkel sicher. Noch aus dem Kreißsaal heraus beantwortet er Presseanfragen, redigiert Presseerklärungen. Erst als seine Frau in den Presswehen liegt, stellt er sein Mobiltelefon aus, erinnert er sich. Nun, mehr als drei Monate später, sagt er zwischen Abklingbecken und Reaktor stehend: "Heute wissen wir, die haben in Japan geschlampt. Sie haben sich auf diesen Tsunami, von dem sie wussten, dass er kommen kann, nicht eingestellt." Wenn Jan-Peter Cirkel spricht, wirkt er in seiner beeindruckenden Körperlichkeit wie eine Festung im Sturm. Nichts kann ihn erschüttern.

Umkleide vor dem Sicherheitsbereich

Als er das Innere des Reaktorgebäudes verlässt, zeigt sein Geigerzähler eine 1 an, ein Mikrosievert, tausendmal weniger als ein Millisievert. Das ist gar nichts, sagt er. "Fliegen Sie mal mit so einem Zähler über den Atlantik, dann wird der einiges mehr anzeigen." Drei Mikrosievert pro Tag gelten als unbedenklich. Der eigene Zähler zeigt nichts an. Und auch die weibliche, computeranimierte Stimme, die uns durch die metallene Kontrollschleuse dirigiert, von vorn und hinten abscannt wie in einem Nacktscanner, entlässt die Besucher mit den Worten: "Keine Kontamination", nicht verstrahlt.

Draußen steht die Sonne im Zenit, Wolken ziehen auf, und über den am Horizont liegenden Gebirgsketten des Odenwaldes liegt eine Dunstglocke. Es ist schwül, aus den Gullis des rund 55 Fußballfelder großen Werkgeländes müffelt es. Da kann keine Klimaanlage etwas machen. Zwischen den Blöcken A und B sieht man auf einmal Menschen hin und her gehen, einige nutzen auch ein Fahrrad, um den Weg zwischen Kantine und Arbeitsplatz zurückzulegen. 1000 zusätzliche Kräfte arbeiten in Biblis, wenn - wie zurzeit - ein Block durchgecheckt wird. Block B ist turnusmäßig im Februar für die Revision runtergefahren worden. Die Kantine ist noch fast voll, eines von drei Menus schon ausgegangen. Es gibt sie also, die derzeit 685 unbefristeten Mitarbeiter und die zusätzlich Beschäftigten, die bisher kaum zu sehen waren. Während der Revision muss allein die werkseigene Bäckerei zusätzlich drei Bäcker befristet einstellen.

Sachverstand ist gefragt

Reinhold Gispert, Betriebsratsvorsitzender

"Die Männer, die hier arbeiten, die brauchen richtig was zu essen", sagt Reinhold Gispert, der Betriebsratsvorsitzende, der die Besucher in der Kantine erwartet. Zur Auswahl stehen noch Leberkäse, wahlweise mit Pommes oder Pfannengemüse, und Heilbutt mit Kartoffeln und Lauchgemüse. Reinhold Gispert, der hier nicht nur der Betriebsratsvorsitzende, sondern bei ver.di auch Bundessprecher des Fachausschusses Kernenergie ist, kommt kaum zum Essen, so aufgeregt ist er. Nicht nur, weil seit Fukushima die Uhr für die Laufzeit der Blöcke A und B neu gestellt und damit auch die Laufzeit aller Arbeitsverträge in Frage gestellt wird. Seit 30 Jahren arbeitet der 50-Jährige hier, hat einst als Strahlenschützer angefangen, und ärgert sich schon seit 1988 über den Ausstiegsbeschluss seiner Gewerkschaft, damals noch die ÖTV, aus der Kernenergie. "Der Beschluss ist bis heute einfach nicht diskutierbar", sagt er. Und: "Unser Sachverstand war und ist auch gar nicht gefragt." So wie sie jetzt durch die amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung kalt gestellt werden, so kalt gestellt fühlen sich die Beschäftigten in der Kernenergie in ver.di schon lange. "Jeder meint, besser zu wissen, was der andere tut", sagt Reinhold Gispert deutlich errötend, und etwas lauter: "Wir in der Kernenergie müssen uns ständig sagen lassen, was richtig ist." Das ärgert ihn dermaßen, dass darüber auch das Essen kalt werden darf. Ein Bundesfachausschusssprecher ist ja nicht irgendjemand in ver.di, eigentlich hätte der etwas zu sagen, aber gefragt wurde er zur aktuellen Lage bisher nicht, sagt er. Auch wenn Reinhold Gispert in diesem Moment mit seinen rotblonden Haaren und Sommersprossen auf der hellen Haut etwas dünnhäutig wirkt, gibt er noch lange nicht auf: "Wir wollen ein Stachel in der Organisation bleiben. Mit meinem Mitgliedsbeitrag meinen Arbeitsplatz zu gefährden, den Spagat muss ich aushalten."

Im Februar hat er zum ersten Mal in einer Tarifrunde einen Streik im Kernkraftwerk organisiert, für "eine Gewerkschaft, die meine Arbeit in Frage stellt". 200 Beschäftigte sind mit ihm vors Werkstor gezogen, 3,4 Prozent mehr haben sie herausgeholt. Darauf ist Reinhold Gispert stolz, genauso wie auf den Umstand, dass ihm wegen des erneuten ver.di-Rufs nach einem schnellen Ausstieg aus der Atomernergie noch kein ver.di-Mitglied abhanden gekommen und ausgetreten ist. Das ist geradezu ein Wunder, sagt er.

Jürgen Bormuth, Schichthandwerker

Eines dieser ver.di-Mitglieder ist Jürgen Bormuth. Er ist 43 Jahre alt und ein sogenannter Schichthandwerker. Das sind diejenigen Arbeitskräfte, die sich zu Schichtbeginn in der Warte sammeln und von dort aus zu ihren Einsatzorten im Kraftwerk geschickt werden. Sie überprüfen Tag und Nacht die Anlagen auf ihre Sicherheit, egal ob sie laufen oder stehen. In der Warte, die sich jeweils im Kontrollbereich der Reaktorgebäude befindet, sieht es ein bisschen so aus wie auf der Kommandobrücke der Enterprise. Mit dem Unterschied, dass man nicht auf Monitoren ins Weltall, sondern auf Messdaten blickt. Auch hier hinein dürfen die Besucher nicht. Sie müssen vor der Glastür bleiben. Jürgen Bormuth ist gerade zur Mittagsschicht gekommen und muss gleich in der Maschinenhalle vom Block B eine Anlage überprüfen.

Die über 50 Meter lange Turbine samt Generator wandelt bei laufendem Betrieb den heißen Dampf, der durch die Kernspaltung im Reaktor erzeugt wird, in Energie um, die dann als Strom in die Überlandleitungen eingespeist wird. Das funktioniert wie bei einem Fahrraddynamo, nur dass dieses hier nicht mit dem Fuß, sondern mit 1,8 Millionen PS angetrieben wird. Man kann sich vorstellen, dass hier ein Rad ins andere greifen muss, damit einem die Pferdestärken nicht um die Ohren fliegen.

"Die Situation hat mich schon zur Weißglut getrieben", sagt Jürgen Bormuth auf dem Weg in die Halle. Frau, drei Töchter und ein noch nicht abbezahltes Haus in Biblis muss er unterhalten. Jedoch glaubt er nicht, in ein paar Jahren, wenn hier Schluss ist und er 50 Jahre, noch einen neuen Job zu finden: "Ich bin überzeugt, dass wir ganz tolle Arbeitgeber haben, aber es werden dann ja nicht 20, 30 Leute auf der Straße stehen, sondern ein paar hundert." Angekommen in der riesigen Maschinenhalle sagt der große Mann, dem man allein wegen seiner kräftigen Statur zutraut, das Schlimmste verhindern zu können, strahlend: "Ich liebe das Geräusch hier, das ist meine Maschine." Dabei ist die Lautstärke im Moment recht erträglich, weil die Turbine nicht läuft und man nicht die Ohrstöpsel benötigt, die man an jedem Eingang zur Maschinenhalle wie bei einem Kaugummiautomaten aus einem Spender drehen kann. Aber Jürgen Bormuth ist jetzt ganz in seinem Element: "Sehen Sie, in Japan haben die Siedewasserreaktoren, wir hier Druckwasserreaktoren. Das ist wie Lada oder S-Klasse fahren. Und wir haben hier die S-Klasse." Das klingt nach Qualität und Sicherheit. Allerdings stehen auch in Deutschland Siedewasserreaktoren, die nächsten nicht weit entfernt in Philippsburg, 30 Kilometer nördlich von Karlsruhe auf einer Rhein-insel.

Wenigstens Kaltreserve

Draußen wird es immer drückender. Die braunweiße Katze, die bereits seit ein paar Jahren auf dem Gelände lebt, hat sich vor dem Besucherzentrum in ihr kleines von Auszubildenden gebautes Modell-Atomkraftwerk samt Abluftkamin zurückgezogen. Am anderen Ende des Werkgeländes, im Kühlwasserbecken am Ufer des Rheins, an dem die Kühltürme stehen, tummeln sich viele Fische. Jan-Peter Cirkel, der Pressesprecher sagt, "von denen muss keiner sterben, die werden alle rausgefischt, wenn wir Kühlwasser abpumpen, und wieder in den Rhein gesetzt." Sollte Biblis B im September von der Bundesnetzagentur bestimmt werden, Kaltreserve zu bleiben, dann kann der Betrieb zumindest in diesem Block bis 2013 aufrecht erhalten werden. Danach beginnt der Rückbau. Und dann?

In den letzten zehn Jahren sind im AKW Biblis 300 neue Mitarbeiter eingestellt wurden. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten liegt jetzt bei rund 40 Jahren. Ein Auffangnetz für sie muss noch gespannt werden - ver.di ist gefordert.