Ausgabe 08/2011-09
20 Tonnen auf der Wirbelsäule
Leipzig als weltweit bester Standort - auf Kosten der Belegschaft
Picktower in Leipzig
SACHSEN, SACHSEN-ANHALT, THÜRINGEN | Amazon gehört zu den großen Arbeitgebern in Leipzig: mit einer Fläche so groß wie elf Fußballfelder, 900 festangestellten Mitarbeiter/innen und circa 500 bis 600 befristeten Stellen.
Weltweit gesehen erklärt der Konzern stets, dass Leipzig der qualitätsstärkste und produktivste Standort ist. Warum, und was der Preis dafür ist, wird deutlich, wenn man die Arbeitsbedingungen genauer unter die Lupe nimmt: Das Zentrum der vier Ebenen einer Halle ist der Picktower, von hier aus gehen die Gänge mit den Regalplätzen ab. Sie sind eng und schlecht zu belüften. Die Temperaturen betragen 24 bis 28 Grad Celsius. Die Mitarbeiter/innen, die sich hier bewegen, heißen Picker. Sie bekommen auf einem Handscanner die Produkte pro Posten, laufen zu den entsprechenden Regalplätzen, entnehmen die Ware, legen sie in einen Wagen, der sie zum Förderband bringt, dort heben sie die Waren auf das Band. Täglich bringt diese Arbeit etwa 20 Tonnen Belastung auf die Wirbelsäule, sagt Renate Thum, Betriebsrätin bei Amazon Leipzig.
Es kommt vor, dass Kollegen/innen einfach mal umfallen, weil der Körper nicht mehr will und kann. Eine Vielzahl von Faktoren kommt da zusammen: die hohen Temperaturen, die schlechte Belüftung, der Arbeitsdruck. In Leipzig bedeuten 100 Prozent Leistung 160 Artikel pro Stunde, an den anderen Standorten von Amazon sind es 120.
Die Pausenregelung ist ein weiteres Problem. In einer Schicht gibt es zwei Pausen, eine 20 und eine 25 Minuten lang. Der Weg zum Pausenraum ist in den riesigen Hallen auf dem Fußboden vorgeschrieben, mit farbigen Strichen gezeichnet. Dann geht's zur Schleuse, meist mit Anstehen verbunden. Die Kontrollen für die Mitarbeiter sind peinlichst genau, ähnlich der auf Flughäfen. Da der Rückweg ebenso lang ist, bleiben gerade mal fünf bis sechs Minuten Pause zum Erholen, Essen und Trinken. Das ist ausschließlich in den Pausenräumen erlaubt. Wer bei den hohen Temperaturen trinken will, kann dies am Arbeitsplatz nur aus den Amazon-eigenen Flaschen. Es ist Leitungswasser aus einer Leitung aus den Waschräumen. Das aber mögen viele nicht, also trinken sie lieber nichts. Ähnlich unangenehm sind die Bedingungen in den sanitären Einrichtungen: Amazon drückt den Reinigungsfirmen die Preise. Daher senken diese die Kosten, indem sie bei Reinigungs- und Desinfektionsmitteln sparen. Auf Kosten der Gesundheit der Mitarbeiter/innen.
So viel zum Thema gute Arbeit und gute Arbeitsbedingungen. Wie ist nun die Bezahlung? Schlecht. Amazon sieht sich als Unternehmen der Logistikbranche und nicht als eins des Einzel- und Versandhandels, wohin es ja eigentlich gehört. So kann das Unternehmen niedrigere Löhne bezahlen. Die Anfangslöhne liegen bei 7,76 Euro die Stunde, nach einem Jahr steigen sie auf 8,65 Euro. An den westdeutschen Standorten liegt der Lohn bei über neun Euro. Skurril wird die Geschichte dann, wenn die Leipziger Kolleg/innen neue Mitarbeiter für andere Standorte im Westen anlernen müssen, die zu diesem Zeitpunkt schon mehr verdienen als sie selbst. Im Moment boomt das Geschäft, und Amazon sucht Saisonkräfte für das Weihnachtsgeschäft. Es gibt aber auch Zeiten, in denen die Aufträge rar sind. Da kommt es schon mal vor, dass Mitarbeiter zur Schicht erscheinen und dann mit Minusstunden nach Hause geschickt werden, weil keine Arbeit da ist - bei zum Teil sehr weiten Arbeitswegen. Doch dagegen gibt es seit einiger Zeit Widerstand.
Der seit 2009 bestehende Betriebsrat und ver.di haben bei Amazon in Leipzig viel zu tun, um diese Arbeitsbedingungen gravierend zu verbessern. "Es hat eine Weile gedauert, bis die Kolleg/innen gesehen haben, dass sie etwas tun müssen, um ihren Arbeitsalltag und ihre Bezahlung zu verbessern. Es ist zu spüren, dass sich bei Amazon in Leipzig etwas bewegt, es ist nicht nur Unmut, die Kollegen trauen sich mehr", sagt Thomas Schneider, der zuständige Gewerkschaftssekretär.
Die Kolleg/innen bei Amazon in Leipzig organisieren sich und wollen mit einem Tarifvertrag die Geschäftsführung zu Änderungen bewegen. Im August war die Zahl der ver.di-Mitglieder schon auf über 330 gestiegen. Betriebsrätin und ver.di-Mitglied Renate Thum berichtet von den vielen kleinen organisierten und auch spontanen Aktionen in den Amazon-Hallen: Handzettel werden verteilt, Aufkleber zieren Türen und Regale. Sie sollen die Belegschaft zum Nachdenken über die Missstände anregen. Erste Erfolge sind da: Ab September steigen die Löhne um 70 Cent. Aber die Mitglieder wissen, nur ihr Einsatz führt zu einem Tarifvertrag und zu guter Arbeit auch bei Amazon. In den Betriebsversammlungen geht es inzwischen lebhaft zu, denn keiner will länger hinnehmen, dass der gute Kundendienst von Amazon auf Kosten der Belegschaft erwirtschaftet wird. Und sauer sind sie über die Bemerkung aus der Führungsetage: Leipzig wurde nur gebaut, weil hier besser, mehr und billiger gearbeitet wird.
Um der ganzen Sache noch mehr Nachdruck zu verleihen, wird bei der nächsten Betriebsversammlung der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske Gast bei Amazon in Leipzig sein, wenn zeitgleich der ver.di-Bundeskongress in Leipzig stattfindet. btr