Der konservative chilenische Präsident Sebastián Piñera lenkt ein. Ende August rief er die streikenden Schüler/innen und Studierenden auf, sich mit den politisch Verantwortlichen "in einem Klima des Friedens und nicht des Krieges" an einen Tisch zu setzen. Gemeinsam wolle man Lösungen finden, die einen gerechten Zugang zur Bildung für alle Chilenen sicherstellen.

Länger als ein Vierteljahr dauern die Proteste in Chile schon an. Am 26. August forderten sie ihr erstes Todesopfer. Zum Abschluss eines zweitägigen Generalstreiks, an dem sich über 100.000 Jugendliche und dieses Mal auch Gewerkschafter/innen beteiligt hatten, war es in der Hauptstadt Santiago zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gekommen. Bisher wurden nach offiziellen Angaben 1270 Schüler und Studierende inhaftiert. Die jungen Menschen fordern eine grundlegende Reform des Bildungssystems, das unter der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973 bis 1990) weitgehend privatisiert wurde.

Mindestens 500 US-Dollar muss eine Familie heute monatlich aufbringen, wenn sie einem Kind eine gute universitäre Ausbildung bieten will. Mitunter summieren sich die Kosten pro Studienplatz auf bis zu 2000 US-Dollar pro Monat. Nach Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kommt der chilenische Staat nur für 15 Prozent der Kosten für die höhere Bildung auf, 85 Prozent müssen privat getragen werden. Die Belastungen sind längst auch für die Mittelschicht nicht mehr zu bewältigen. Rund zwei Milliarden US-Dollar Schulden haben sich seit der Privatisierung angehäuft, berichtete der Korrespondent der Tageszeitung ABC in Chile. Niemand weiß, wie diese Verbindlichkeiten je beglichen werden sollen.

Die Studierenden und große Teile der Schülerschaft haben deswegen zur "Entscheidungsschlacht" aufgerufen. "Wir werden die Proteste nicht einstellen", hatte Mitte August die charismatische Präsidentin des chilenischen Studierendenverbandes Confech, Camila Vallejo, bekräftigt und bleibt auch jetzt vorsichtig ob des Vorstoßes des Staatschefs. Der schwierigen Situation zum Trotz organisieren die Jugendverbände einen landesweiten Großprotest für den 11. September, den Jahrestag des Militärputsches, der 1973 den Beginn der Pinochet-Diktatur in Chile markierte.

Demonstranten und Regierung fast unversöhnlich

Weil die Proteste andauern, sollen nun ein neues Bildungsgesetz und der von Piñera eingerichtete Verhandlungstisch zu einer Einigung verhelfen. Doch die Forderungen der jugendlichen Aktivisten sind ebenso weit gediehen wie ihr Selbstbewusstsein. Sie drängen darauf, dass die Regierung Piñera eine Volksabstimmung über die Struktur der Bildung in Chile anberaumt. Nach einem Vierteljahr der Proteste stehen sich Demonstranten und Regierung fast unversöhnlich gegenüber. Vertreter des Polit-Establishments haben Probleme, mit der Jugendbewegung umzugehen.

Zu spüren bekam das auch die Confech-Präsidentin Vallejo. Gegen die hagelte es im Internet Beschimpfungen und Mordaufrufe, die nun die Gerichte beschäftigen. Zu den Autoren der Angriffe zählen auch der Vizepräsident der regierenden Rechtspartei Renovación Nacional, Juan Pablo Camiruaga, und eine führende Mitarbeiterin des Kulturministeriums.

Für die Regierung drängt die Zeit, denn im kommenden Jahr finden in Chile Regionalwahlen statt. Derzeit liegt die Regierung des Rechtskonservativen Piñera bei nur 26 Prozent. Beobachter bezweifeln, dass Piñera und seine Mitstreiter bis zu den Präsidentschaftswahlen 2013 noch aus diesem Tief herauskommen können. Harald Neuber