Le Havre | "Am Mittelmeer gibt es mehr Geburtsurkunden als Fische." Das sagt Chinese Chang aus Erfahrung. Denn eigentlich ist er ein illegaler Vietnamese und einer der Kumpel von jemand, der eigentlich ein versoffener Clochard in Paris war und jetzt wie Chang in Le Havre lebt, gerettet von der Liebe einer Frau. Durch solche Hinweise unterläuft Regiestar Aki Kaurismäki - selbst von Finnland nach Portugal ausgewandert - die Vorurteile gegen Containerflüchtlinge oder Boat People aus Afrika: Die Europa an die Wohlfahrtsgelder und Jobs wollen und daher mit Staatsgewalt an der Einreise oder Ansiedlung gehindert werden müssen. Bis ins Detail spürt er seinen französischen Idolen der Schwarzweißfilm-Ära nach, macht aus Le Havre ein Märchen. Eines von der bedingungslosen Freundschaft der Leute im Fischerviertel dieser Hafenstadt, die auch einen aus einem Container entkommenen schwarzen Jungen unter ihre armen Fittiche nehmen: Gemeinsam ermöglichen sie ihm die Flucht im Fischkutter zu seiner Mutter nach London. Zum Selbstkostenpreis. jv

FI/F/D 2011 R: Aki Kaurismäki; D: André Willms, Blondin Miguel, J.-P. Léaud, 105 Min., Kinostart: 8. 9. 2011


Melancholia | Weltuntergangsvisionen gibt es viele, denkt man nur an atomare Katastrophen oder den Klimawandel. Vielleicht aber löscht auch ein außergewöhnliches Naturereignis die Menschheit aus. Lars von Trier entwirft ein simples Szenario, wie dies geschehen könnte: Ein Riesenplanet rast auf die Erde und verschlingt sie. Unheimlich und faszinierend wirkt diese Götterdämmerung zu der ekstatischen Musik aus Wagners Tristan. Zwei Schwestern verfolgen das Spektakel mit eigenen Augen: die manisch-depressive Justine, deren Hochzeit soeben in einem Desaster endete, und die fragile Claire in Panik und Sorge um ihren kleinen Sohn. Und obwohl vermutlich die meisten Menschen am Leben hängen und mit dieser Mutter fühlen, ist dies kein gruseliges Endzeitdrama zum Fürchten. Im Gegenteil: Der sich als Misanthrop bekennende Regisseur inszeniert seine apokalyptische Crash-Fantasie mit so versöhnlichen Gesten, dass von ihr bei aller Mystik auch etwas Befreiendes ausgeht. kl

DK/S/F/D 2011. R: Lars von Trier. D: Kirsten Dunst, CH. Gainsbourg, CH. Rampling, u.a. 130 Min. Start: 6. Oktober 11


Mein Stück vom Kuchen | Wenn die Hauptrolle den Namen ihres Landes trägt, France, ist mit einer Botschaft zu rechnen, auch wenn es mit einem Kindergeburtstag in Dünkirchen beginnt. Gerecht verteilte Kuchenstücke plumpsen auf Teller. Nebenan isst die gerade entlassene Single-Mutter von drei Töchtern all ihre Schlaftabletten. Doch France wird gerettet. Schon sitzt sie im Zug nach Paris, fleht sich in einen Haushaltsführungskurs für Migrantinnen hinein und wird mit Bügelkenntnissen ausgerechnet an jenen Börsenmakler vermittelt, der die Schließung ihrer Fabrik verursacht hatte. Wie man aus dieser emotionalen Blonden und dem frauenverachtenden Sportwagenkapitalisten ein Liebespaar macht, ist hohe Filmkunst. Doch anders als bei Aschenputtel greift die Hand des Prinzen nicht zum Ehering, sondern zum Smartphone. Um mit seinem One-Night-Stand zu prahlen. Was France eine Abrechnung inszenieren lässt, bösartig, aber befriedigend. jv

F 2011; R: Céderic Klapisch. D: Karin Viard, Gilles Lellouche, 109 Min.; Start: 15.9.11