Am Rande einer Demo in Santiago: Versuch eines Dialogs

Von Gerhard Dilger

Seit mehr als fünf Monaten gehen Chiles Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen, Lehrer und Studierende schon auf die Straße - für ein gutes und kostenloses Bildungswesen für alle und für die Überwindung des neoliberalen Systems im Land. Nach fast einem halben Jahr permanenter Mobilisierung steigt der Druck auf Chiles Bildungsbewegung seit Anfang Oktober erneut an. Am 5. Oktober haben die Schüler/innen, Lehrer/innen und Studierenden den Scheindialog mit der Rechtsregierung von Sebastián Piñera abgebrochen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Regierung weigert sich generell, mit ihnen über strukturelle Reformen zu reden. Tags darauf, am 6. Oktober, hat die Polizei die lange angekündigte, aber nicht offiziell genehmigte Großdemonstration in Santiago de Chile bereits nach Minuten brutal aufgelöst. Sie setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. "Das ist inakzeptabel, die Repression und die Gewalt, die wir heute erleben, sind ohne Beispiel", twitterte die Studentensprecherin Camila Vallejo, bevor sie selbst von einem Wasserwerfer attackiert wurde.

Das Ende der Beschaulichkeit

La Florida ist ein beschauliches Mittelschichtsviertel im Süden von Chiles Hauptstadt. Einfamilienhäuser prägen das Straßenbild. Hier steht Raimapu, eine der landesweit bekannten Alternativschulen. Camila Vallejo hat hier vor sechs Jahren ihren Schulabschluss gemacht.

Aus dem Haupteingang strömen die Grundschüler, alles scheint wie immer zu sein. Doch Ruhe herrscht hier nicht. Auf der anderen Seite ragen metallene Stuhlbeine durch den Zaun und signalisieren: Die Schule ist besetzt, so wie hunderte im ganzen Land. Seit Juni haben die Schüler der obersten vier Jahrgänge die Räume mit der Grundschule getauscht. Etwa 50 von ihnen übernachten hier. Auf einem Transparent steht ein Titel der Sängerin und Volkslied-Ikone Violeta Parra: "Me gustan los estudiantes" - Mir gefallen die Schüler/innen und Student/innen.

Raimapu wurde 1982 von Gegnern der Militärdiktatur gegründet. Diese Schule ist anders als die meisten, hier gibt es langhaarige Jungen und kleine Klassen, dafür keine Uniformen. Dank staatlicher Subventionen beträgt das monatliche Schulgeld umgerechnet 150 Euro im Monat, wenig für eine Privatschule. Beim Streik ziehen hier Schüler, Lehrer, Schulleitung und fast alle Eltern an einem Strang, auch das ist ungewöhnlich. "Dennoch gibt es auch hier Ermüdungserscheinungen", sagt die 15-jährige Schulsprecherin Taide Zaror. Doch die Besetzung geht weiter, denn die Regierung macht keine Anstalten, auf die Forderung der stetig wachsenden Protestbewegung nach strukturellen Reformen im Bildungswesen einzugehen. "Das Schuljahr müssen wir wohl wiederholen, aber das ist es uns wert", sagt Taide Zaror.

Ein ungerechtes System

Chiles Schülern und Studierenden ist es gelungen, die mit Abstand größte soziale Bewegung seit dem Ende der Pinochet-Diktatur im Land zu entfachen. Woche für Woche protestieren sie seit Mai gegen das Mehrklassenbildungssystem, das selbst im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern extrem ungerecht und teuer ist. 60 Prozent der Schulen und Universitäten sind in der Hand privater Träger. Insgesamt wird nur ein Viertel des Bildungswesens vom Staat finanziert, drei Viertel müssen die Schüler und Studenten selbst aufbringen. Die Universitäten sind die teuersten der Welt. Installiert wurde dieses System unter dem Militärregime.

"Wir lassen nicht locker", sagt Patricia Díaz. Die 23-Jährige, die an der staatlichen Universidad de Chile Journalistik studiert, wohnt mit ihren Eltern in einem Reihenhaus im Süden der Hauptstadt. Kurz vor ihrem Abschluss hat sie einen Schuldenberg von umgerechnet 17.000 Euro angehäuft, durch Zinsen wird er sich noch einmal verdoppeln. Als Angehörige der Mittelschicht und ohne schulische Spitzenleistungen hatte sie keine Chance auf ein Stipendium. Ihr Vater verdient für chilenische Verhältnisse ganz ordentlich, 1500 Euro im Monat. Damit kann er Patricia gerade den Lebensunterhalt zu Hause finanzieren. "Das neoliberale System hat alles privatisiert", sagt der Informatiker, "und das Leben wird immer teurer."

Eine zentrale Forderung der Bewegung lautet denn auch: "Keine Profite mehr!" Für Patricia Díaz ist klar: "Selbst wenn es mir selbst nicht mehr hilft - wenigstens für meine Kinder will ich ein öffentliches, gutes und kostenloses Bildungssystem durchsetzen."

Auf der Südseite von Santiagos Prachtstraße Alameda steht das mächtige Hauptgebäude der Universität. Auch dieser Bau ist seit Mitte Juni besetzt, nachts halten etwa 30 Studierende die Stellung. Die prachtvolle Aula haben sie in "Revolutionssaal" umgetauft.

Der 20-jährige Ingenieurstudent Cristóbal Rojas sagt: "Das hier ist die Fortsetzung der Schülerbewegung aus dem Jahr 2006." Damals richtete die Sozialistin Michelle Bachelet nach wochenlangen Massenprotesten im Land zwar Arbeitsgruppen ein, doch es änderte sich kaum etwas an dem profitorientierten, viele Menschen ausgrenzenden Bildungssystem.

Mit Arroganz und Brutalität

In ihrer Arroganz ist die jetzige Rechtsregierung als Gegner klarer erkennbar. Ebenso wie die Brutalität der Polizei und die Parteinahme der großen Medien für Präsident Piñera beflügelt sie den Aufbau von Allianzen: Lehrer und Unidozenten marschieren seit Mai bei den Protesten mit, im August unterstützten Hunderttausende Schüler und Studierende den Generalstreik des Gewerkschaftsdachverbands CUT. Parteipolitik spielt bei den Protesten aber kaum eine Rolle, die meisten Schüler und Studenten lehnen Parteien ab.

89 Prozent der Bevölkerung stehen hinter den Forderungen der Demonstrant/innen. Der chilenische Frühling geht weiter.