Vaterlandsverräter | Der alte Mann blickt aus dem Fenster in den winterlichen Nebel. Dort, vom Saum des Waldes, sagt er, komme, wenn er nicht mehr weiter wisse, das Wort, nach dem er gesucht habe. Dort, bei den Bäumen, findet der Schriftsteller Paul Gratzik Antworten auf seine Fragen. Der Mensch Paul Gratzik aber weigert sich, Antworten zu geben auf die Fragen, die ihm gestellt werden.Annekatrin Hendel hat es trotzdem versucht. In ihrem Dokumentarfilm rekapituliert sie die erstaunliche Geschichte von Paul Gratzik, dem Flüchtlingskind, Tischler, Malocher, gefeierten Bühnenautoren und Spitzel. 20 Jahre lang berichtet er als IM aus der Theater- und Literaturszene der DDR, und als er mit der Staatssicherheit bricht, wird er selbst überwacht und zur Unperson. Aus dem Täter wird ein Opfer.Die Filmemacherin begleitet ihren mittlerweile 75-jährigen Protagonisten zum Augenarzt und zum beklemmenden Treffen mit seiner von ihm entfremdeten Tochter. Sie stapft mit ihm durch die verschneite Uckermark, in die sich Gratzik zurückgezogen hat, um seine Einsamkeit ungestört im Alkohol zu ertränken. Sie befragt auch die von Gratzik bespitzelten Kollegen und Freunde, den schrecklich selbstgefälligen Führungsoffizier, die ehemalige Geliebte, die erst vor der Kamera erfährt, dass sie mit der Stasi im Bett lag, und auch Sascha Anderson, jenen Nachwuchsliteraten, der später den in Ungnade gefallenen Denunzianten denunziert.Anhand dieser Zeugenaussagen wird anschaulich: Gratzik hat alle und alles verraten, seine Liebsten, seinen Staat, seine Ideale und nicht zuletzt sich selbst. Heute schimpft er, es sei „ein Scheißdreck, in diesem alten Mist rumzuwühlen“, und findet die DDR „mitnichten gescheitert“. Im nächsten Moment gibt er sich zerknirscht, verdammt „das kleine Arschloch Paul Gratzik“, den „Scheißvater“ und wirbt um Mitleid, denn „auch Verräter leiden“. Er ist eitel und verstockt, exzentrisch und selten demütig, einer, der weiß, dass er gescheitert ist, aber sich sein bisschen Restwürde zu bewahren versucht.Doch das ganze Drama dieses Lebens ist am deutlichsten zu sehen in Gratziks Gesicht. Wenn er aus den Berichten vorliest, die er geschrieben hat, wenn er seine Denunziationen vorträgt, dann scheinen in diesem zerstörten Gesicht der Trotz und die Trauer auf, die Wut auf sich selbst und auf alle anderen. Dann kann man in Paul Gratziks Gesicht lesen, was ein Überwachungsstaat aus einem Menschen macht. Dass er den Menschen deformiert. Thomas Winkler D 2011, R: Annekatrin Hendel, mit Paul Gratzik, Ursula Karusseit, Ernstgeorg Hering, Renate Biskup u.a., 96 Minuten, Kinostart: 20.10.2011


Der Fall Chodorkowsky | Wer ist er nun wirklich: ein kapitalistischer Ausbeuter, Wirtschaftskrimineller oder Idealist? Cyril Tuschi porträtiert eine polarisierende Persönlichkeit, konzentriert sich dabei aber auf ihre Verdienste: Michail Chodorkowsky investierte in Bildung und plädierte für eine marktwirtschaftliche Demokratie in einem Land, das Menschenrechte noch immer missachtet. Die Aussagen der Befragten erhärten den Eindruck, dass sich der Inhaftierte im Laufe von Jahren selbstkritisch zum Positiven veränderte und keineswegs nur wegen Steuerhinterziehung in ein sibirisches Gefängnis wanderte. Tuschi macht kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass sein Protagonist mit seiner offenen Kritik an Putin zum Feind des Kremls wurde, der ihn als unbequemen Gegner loswerden wollte. Dafür spricht, dass kein hochrangiger russischer Politiker dem Regisseur ein Interview geben wollte. Die brisante Doku mit ihrer hartnäckigen Suche nach den wahren Motiven für Chodorkowskys Verurteilung ist ein Stich ins Wespennest. Nicht zufällig warnten viele Interviewpartner den Regisseur vor diesem Projekt. kl

D 2011, R: Cyril Tuschi. 111 Min., Kinostart: 17.11.2011


Nur für Personal! | Oben die Herrschaft und unten die Bediensteten, das klingt wie Eaton Place, die legendäre britische Fernsehserie. In Nur für Personal! lebt die Großbürgerfamilie in der weitläufigen Pariser Wohnung im oberen Stockwerk. Im Dachgestühl darüber hausen die spanischen Dienstmädchen des Blocks: eine verstopfte Etagentoilette und Wasserschüsseln statt Badezimmern, zumindest 1962. Der Arbeitgeber, ein damals ganz gemütlich arbeitender Börsenmakler, verguckt sich in den jungen Neuzugang. Doch der Film geht nicht den Weg einer schäbig-schönen Affäre. Stattdessen genießt der Spießer den Kontakt mit all den vitalen, aber unter ihrer Armut leidenden Frauen des Nachbarlands. Ein Culture Clash, der sein Leben verändern wird. Der außerdem die aktuellen Arbeitsverhältnisse international rekrutierter Haushaltshilfen freundlich moralisierend illustriert, in einem Plot voller Überraschungen. Frühstückseier spielen ihre Rolle, ein verwegenes Gläschen Malaga, sowie die Kunst des Lohnultimatums. jv

F 2010 R: Philippe le Guay. D: Fabrice Luchini, Sandrine Kiberlain, Carmen Maura, Natalia Verbeke, 106 Min., Kinostart: 3.11.11