Schön vorbereitet auf den nächsten Protesttag. Im Herbst im New Yorker Zuccotti-Park

Von Barbara Jentzsch

"Occupy Wallstreet! We are the 99%!" Der spontane Aufschrei der vom Casino-Kapitalismus betrogenen Amerikaner hat ein phänomenales Echo provoziert. Was am 17. September in Manhattan als fröhliche Aktion junger Aktivisten begann, von den Medien belächelt und der Polizei attackiert wurde, ist in rasantem Tempo zu einer massiven, respektierten Bewegung für wirtschaftliche Gerechtigkeit geworden. Den 5. November hatten die Aktivisten zum "Money Transfer Day" ausgerufen, und es ist auch ihr Verdienst, dass mehr als eine Million Amerikaner seit September ihre Konten bei den großen Wallstreet-Banken gelöscht haben und jetzt Kunden von lokalen Credit Unions sind.

"Alles, was man uns in den vergangenen zehn Jahren erzählt hat, war gelogen", sagt David Graeber, einer der Vordenker der Occupy-Wallstreet-Bewegung. "Die Märkte haben sich nicht selbst reguliert, und die Erfinder finanzieller Instrumente waren keine unfehlbaren Genies. Was wir heute bei den Aktivisten sehen, sind die Anfänge der Selbstbehauptung einer neuen amerikanischen Generation. Junge Leute in der Ausbildung, aber ohne Chance auf einen Arbeitsplatz. Ohne Zukunft, aber mit enormen Schulden - die sie nie, nicht mal durch eine Bankrotterklärung, loswerden können."

Mehr Städte, mehr Anhänger

Anfang November haben die Besetzer mehr als 1500 amerikanische Städte erobert. Dass Google behauptet, ein Abflauen des Interesses zu messen und die üblichen Experten sich nicht vorstellen können, dass eine hierarchielose Bewegung gesellschaftliche Umwälzungen erreichen kann, sagt nicht viel aus. Korrekturen sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten sind in den USA immer von kleinen, außerparlamentarischen Bewegungen ausgegangen, die anfangs niemand ernst nahm. Was die Meinungsmacher denken, lässt die neue Bewegung kalt. Druck erzeugen - das ist das Gebot der Stunde. Präsenz auf der Straße zeigen. "Wir sind hier und wir bleiben", sagt Anthony Steward aus Binghamton. "Wir repräsentieren den Anfang eines Langzeitprojekts." Die Bewegung zielt auf immer mehr Anhänger. Sie fasst ihre Beschlüsse basisdemokratisch, freut sich über Besuche des Filmemachers Michael Moore und genießt die Unterstützung der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman. Sie ist lockere Bündnisse mit einem breiten sozialen Spektrum eingegangen. Bürgerrechtsorganisationen, Künstler und Schriftsteller, Irak- und Afghanistan-Veteranen, Arbeitslose, Schüler und Studenten, Obdachlose und mehr als 200 Colleges haben sich den Protesten angeschlossen. Auch die Gewerkschaften waren bei den ersten Unterstützern. Das war wichtig für die Besetzer. "Das beweist wieder einmal das unschlagbare Potenzial von Massenprotesten", sagt Karen Nussbaum, die Vorsitzende der drei Millionen starken Gewerkschaftsver-einigung Working America.

Landesweit haben die Gewerkschaften Geld und Decken gespendet. Wenn sie gebraucht werden, sind sie zur Stelle. In New York verhinderten sie die Räumung des Zuccotti-Parks. In Oakland beteiligten sie sich am 2. November am Generalstreik, zu dem Occupy Oakland aufgerufen hatte. Und es gelang den 30.000 jubelnden Demonstranten tatsächlich, Amerikas fünftgrößten Hafen lahmzulegen. Doch im Anschluss an den friedlichen Marsch kam es erneut zu brutalen Polizeiattacken. Nachdem der 24-Jährige Irak-Veteran Scott Olsen am 25. Oktober bei einem Polizeieinsatz einen Schädelbruch erlitten hatte, knüppelten Oaklands Cops einen weiteren Kriegsveteranen nieder. Der 32-jährige Kayvan Sabeghi wurde schwer verletzt, als Alkoholiker und Drogenabhängiger beschimpft und 18 Stunden eingesperrt, bevor er medizinische Hilfe bekam und mit gerissener Milz auf die Intensivstation eingeliefert wurde. Laut OWS Twitter sind seit Beginn der Rebellion an die 3000 Menschen verhaftet worden.

Deutliche Zahlen

Gewerkschafter und Besetzer brauchen einander, doch als Instrument der Gewerkschaften will Occupy Wallstreet nicht gelten, genauso wenig wie als Katalysator der Demokraten. Längst haben sich der jungen Generation auch Ältere angeschlossen, Amerikaner, von denen viele ihren Job, ihre Häuser, und zeitweilig auch Mut und Hoffnung verloren haben. 81 Prozent der Bevölkerung sehen die USA im Herbst 2011 auf einem falschen Weg. Die Zahlen auf den Occupy-Plakaten haben sich tief ins öffentliche Bewusstsein eingegraben: 25 Millionen Arbeitslose, 46 Millionen sind auf Lebensmittelkarten angewiesen, 50 Millionen ohne Krankenversicherung, 64 Prozent verschuldet. Ein Prozent der US-Amerikaner besitzt 40 Prozent des Volksvermögens. Und schließlich: "Wir sind die 99 Prozent."

Wallstreet-Profiteure und Politiker glauben offensichtlich, sie können die Proteste einfach aussitzen. Sie tun so, als gehe sie das alles nichts an. Doch der aktuelle Bericht des regierungsunabhängigen Congressional Budget Office nennt deutliche Zahlen: Zwischen 1979 und 2007 ist das Einkommen beim reichsten Prozent der Amerikaner um 275 Prozent gestiegen, während es bei den folgenden 19 Prozent um 65 Prozent und bei den ärmsten 18 Prozent um 20 Prozent gesunken ist. Occupy Wallstreet hat einen langen Weg vor sich. Doch der Zeitpunkt ist günstig.