Ausgabe 03/2012
Verfolgt und weggesperrt
Die Kampagne "Demokratie hinter Gittern" kämpft für die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei und setzt sich dafür ein, die Öffentlichkeit besser zu informieren
Postkarten, die auf der Website bestellt werden können.
von Michaela Ludwig
Der Steiger-Award ist eine Auszeichnung für Menschlichkeit und Toleranz. Dieser Preis sollte dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan Mitte März in Bochum verliehen werden. Für Kurden, Aleviten, Assyrer - kurz: alle, die ihre Rechte in der Türkei missachtet sehen, ist diese Auszeichnung blanker Hohn. "In Erdogans Regierungszeit hat sich die politische Situation in der Türkei vor allem in Bezug auf demokratische Standards dramatisch verschlechtert", kritisiert die Kampagne "Demokratie hinter Gittern" die Entscheidung.
Rund 23.000 Menschen waren auf der Straße, um die Ehrung zu verhindern. Die Aktivisten der Kampagne marschierten gemeinsam mit 3000 Menschen aus kurdischen, armenischen und assyrischen Vereinen. "Für dieses Thema haben wir uns zusammengefunden", sagt Martha Ostheim (Name geändert), Kampagnen-Mitstreiterin aus Frankfurt am Main. "Das war eine sehr solidarische Aktion." Ihre Transparente und Plakate auf der Demonstration zeigten Fotos und Schattenrisse von Männer und Frauen. Über den Gesichtern steht: "Verhaftet, weil Demokratie gelebt."
Immer mehr Verhaftungen
Mehr als 6800 politisch motivierte Festnahmen in der Türkei zählt der türkische Menschenrechtsverein IHD allein für das Jahr 2011. Betroffen sind nicht mehr nur kurdische Parteien, Bürgermeister und Parlamentsabgeordnete. Zunehmend gerät die Zivilgesellschaft ins Visier der Behörden. Die Zahl der verhafteten Menschenrechtsaktivisten, Mitglieder der Frauen- und Umweltbewegung, Gewerkschafter und Journalisten ist rapide gestiegen.
"Die Situation in der Türkei eskaliert", sagt Ostheim. "Aber in der bundesdeutschen Öffentlichkeit herrscht Schweigen." Um dem entgegenzuwirken, haben sich Gruppen und Einzelpersonen zur Kampagne "Demokratie hinter Gittern" zusammengeschlossen. Ostheim ist Mitglied der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW). Wie viele ihrer Kampagnen-Mitstreiter war sie 2011 als Wahlbeobachterin in der Türkei. Dort lernten sie Politiker von der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und Menschenrechtsaktivisten kennen. "Viele wurden inzwischen verhaftet", erzählt sie. Was die Aktivisten in Deutschland kritisieren: Informationen über Verhaftungen erhalten sie nur von Freunden oder aus Internet-Portalen. "In deutschen Medien gibt es eine faktische Nachrichtensperre", stellt Martha Ostheim fest. "In den Redaktionen wissen alle über die Situation Bescheid, aber thematisiert wird sie nicht." Das war der Auslöser für die Kampagne, die im vergangenen Jahr am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, in Berlin ihre Arbeit begonnen hat.
Aktionen in der gesamten Republik
Die Homepage von "Demokratie hinter Gittern" informiert und verweist auf Berichte von Human Rights Watch, Amnesty International und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Um sichtbar zu werden, starten einzelne Aktivisten und Gruppen in der gesamten Bundesrepublik Aktionen. So verteilen sie Flugblätter vor dem Schalter der halbstaatlichen Turkish Airlines in Düsseldorf und bei der Eröffnungsveranstaltung des Deutsch-türkischen Filmfestivals in Nürnberg oder organisieren Veranstaltungen mit dem türkischen Menschenrechtsverein IHD.
Und um die Gefangenen wollen sie sich kümmern. "Wir wollen ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, dass wir das Geschehene publik machen", so Martha Ostheim. Die Kampagne hat Solidaritätspostkarten drucken lassen, die über die Website bestellt werden können. Dort finden sich auch die Adressen der Inhaftierten. "Viele Gefangene bekommen inzwischen Postkarten aus Deutschland. Es haben sich schon Brieffreundschaften entwickelt."
Punktuell gibt es auch eine Öffentlichkeit. Der Fall einer ungeheuerlichen Verletzung von Kinderrechten kam in die deutschen Medien: Kurdische Kinder wurden als angebliche Mitglieder einer Terrororganisation, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, in ein türkisches Gefängnis gebracht. Autorin der investigativen Recherche war die 21-jährige Journalistin Özlem Agus von der Dicle-Nachrichtenagentur in Adana im Süden der Türkei. Sie beschrieb, wie 13- bis 17-jährige Jugendliche im Gefängnis Opfer von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch wurden. Sieben Monate lang hatte die Polizei die Hilferufe der Jugendlichen aus dem Gefängnis Pozanti ignoriert. Doch die Enthüllungen sorgten für Aufruhr. Nur eine Woche später wurden Özlem Agus und ihre Agentur-Kollegen festgenommen. Ihnen wurde laut einer Veröffentlichung der Süddeutschen Zeitung vorgeworfen, heimliche Mitglieder des städtischen Flügels der PKK zu sein. Die junge Frau sitzt jetzt selbst in Untersuchungshaft, wie viele ihrer Berufskollegen. Das unabhängige Istanbuler Medienportal Bianet nennt 2011 "das Jahr der Massenverhaftungen".
Internationaler Protest
104 Journalist/innen sind laut Bianet inhaftiert, 103 davon wegen des türkischen Anti-Terrorgesetzes. "Das Signal ist eindeutig", wird Ali Tanriverdi vom IHD in der Süddeutschen Zeitung zitiert. "Die Festnahme von Özlem Agus ist ein Versuch, alle Journalisten einzuschüchtern, die Missstände im Land aufdecken."
Gegen die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei hat sich internationaler Protest erhoben. Der PEN-Club, die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, Human Rights Watch, Amnesty International - die Liste der Kritiker ist lang. Die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Dunja Mijatović, fordert die Reform der Mediengesetze des Landes: "Die Gesetze müssen sofort geändert werden, damit Journalisten nicht für ihre Tätigkeit inhaftiert werden." Die dju sieht die Pressefreiheit in der Türkei "in akuter Gefahr". Die Proteste scheinen gefruchtet zu haben: Erst kürzlich wurden zwei Journalisten aus der Haft entlassen. Für die übrigen ist die Situation jedoch unverändert. Auch die Repressionen gegen Mitglieder linker Gewerkschaften häufen sich. Mitte Februar wurden in Ankara die Büros des Dachverbands der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes KESK sowie die Büros der Gewerkschaften SES (Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen) und TÜM BEL SEN (Gewerkschaft der Kommunalangestellten) durchsucht. 15 Frauen wurden verhaftet, weil sie Aktionen zum Internationalen Frauentag vorbereiteten. Im November wurden 25 Frauen und Männer der KESK und der Lehrergewerkschaft Egitim Sen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu Gefängnisstrafen von sechseinhalb Jahren verurteilt. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, unter dem Deckmantel gewerkschaftlicher Tätigkeit für Tarnorganisationen der PKK gearbeitet zu haben. Der Internationale Gewerkschaftsbund kritisiert die Einschüchterung und Verfolgung von Gewerkschaftern als ernsthafte Verletzung europäischer und internationaler Abkommen. ver.di-Mitglieder um den hessischen Landesjugendsekretär Fabian Rehm haben im Rahmen der Kampagne "Demokratie hinter Gittern" einen Solidaritätsaufruf mit den verhafteten Kollegen in der Türkei gestartet (siehe Info-Kasten).
Den Steiger-Preis hat Erdogan übrigens nicht bekommen. Der türkische Ministerpräsident ist aufgrund einer anderen Verpflichtung gar nicht erst angereist.
ver.di-Solidarität
dju übernimmt Patenschaft für türkische Journalist/innen
Die dju in ver.di unterstützt die Kampagne "Set Turkish Journalists Free" der Europäischen Journalisten Föderation EJF, indem sie Patenschaften für in der Türkei inhaftierte Journalisten übernimmt. Der dju-Bundesvorstand, der dju-Landesverband Hessen und die dju Köln werden jeweils einen Inhaftierten betreuen und seinen Fall öffentlich machen. Auch EJF-Mitgliedsgewerkschaften in Belgien (AGJPB), Frankreich (SNJ-CGT), Italien, Ungarn und Großbritannien engagieren sich in dieser der Kampagne.
http://mmm.verdi.de/aktuell/dju-uebernimmt-patenschaft-fuer-tuerkische-journalisten
Aus dem ver.di-Aufruf:
"Stoppen wir die Repression gegen unsere Kolleg/innen! Schluss mit der Verfolgung von Gewerkschafter/innen in der Türkei!
... Wir sind besorgt. Über 11.000 politisch motivierte Verhaftungen zählt der türkische Menschenrechtsverein im Jahr 2011, 6300 Menschen blieben in Haft. ... Der Grund: Einsatz für mehr Demokratie, Frauen- und Menschenrecht, aktive Gewerkschaftsarbeit. Die Vorwürfe des Staates sind immer gleichlautend. Unsere Kolleg/innen sollen sich der Unterstützung der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) schuldig gemacht haben. Als Beweis reicht dem türkischen Staat das aktive Engagement für eine andere, demokratischere Gesellschaft..."
Unterzeichnet haben bisher u.a. viele Aktive der ver.di-Jugend. Wer den Aufruf unterstützen will, kann sich an Fabian Rehm wenden, E-Mail fabian.rehm@verdi.de
http://demokratiehintergittern.blogsport.de/images/AufrufvonGewerkschafterInnen_01.pdf