HENRIK MÜLLER ist Redakteur bei ver.di PUBLIK

Ein Grund für den Niedergang der parlamentarischen Demokratie in Bundesdeutschland ist der verstärkte Trend, dass die Abgeordneten selber freiwillig auf grundlegende Rechte verzichten. Das fing an mit der Schuldenbremse und ging weiter mit der Übertragung von milliardenschweren Finanzentscheidungen auf ein neunköpfiges Geheimgremium. Der neueste Skandal ist der Vorschlag einer Mehrheit aus CDU/CSU-, FDP- und SPD-Vertretern im Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, das Rederecht der Abgeordneten im Plenum des Parlaments noch weiter einzuschränken.

Wie bitte, werden Sie fragen, ein frei gewählter Abgeordneter darf im Bundestag nicht frei reden, wenn er das will? Das System der parlamentarischen Demokratie wird uns doch stets idealtypisch so verkauft: Wir als Volk sind der Souverän, bestimmen durch freie Wahlen unsere Vertreter/innen im Parlament, wo sie unsere Interessen vertreten, zum Beispiel durch Argumentieren und eben Reden. In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass die Fraktionsführungen festlegen, wer wann zu welchem Thema im Parlament reden darf. So wird weitgehend sichergestellt, dass abweichende Meinungen gar nicht erst zur Sprache kommen.

Bundestagspräsident Lammert, CDU, hatte bei den Abstimmungen über den Euro-Rettungsschirm seinen verbliebenen Spielraum genutzt, auch Abweichlern das Wort zu erteilen. Nun sollen er und seine Stellvertreter/innen verpflichtet werden, ausschließlich von den Fraktionen eingeteilte Abgeordnete reden zu lassen, andere nur höchst ausnahmsweise - für maximal drei Minuten. Ob sich die christ-, frei- und sozialdemokratischen Parlamentarier/innen solcherlei weitere Entmündigung gefallen lassen, so dass sich die "Piraten" wieder einmal ins Fäustchen lachen können? Zu wünschen wäre, dass sie mal ein bisschen Mumm aufbringen und den absurden Vorschlag ihrer Parteisoldaten im Bundestagsplenum ablehnen. Einzelne kritische Stimmen wurden Mitte April schon laut.