Näherinnen in einer Fabrik der Quantum Clothing Group in Kambodscha

VON Ruth Gruber

In Kambodscha, dem kleinen Agrarland in Asien, boomt die Bekleidungs- und Schuhindustrie. Adidas, Puma, Nike, Reebok, H&M und andere europäische und amerikanische Firmen lassen hier produzieren. Tendenz steigend. Nur in Bangladesch sind die Bedingungen für die Unternehmen noch günstiger. Doch den rund 350.000 Arbeiter/innen bringt dieser Boom nichts. Die Löhne sind zwar nominal leicht gestiegen, real aber wegen hoher Inflation in den letzten zwei Jahren um zwölf Prozent gefallen. Auf einem "Volkstribunal für angemessene Mindestlöhne und gute Arbeitsbedingungen", das von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen veranstaltet wurde, legten Betroffene Zeugnis ab, wie in Kambodscha gelebt und gearbeitet wird.

Die Lebensbedingungen

Hieb Kimhour, 27, verheiratet und Mutter eines zweijährigen Sohnes, ist Arbeiterin bei Grand Twins in Phnom Penh. Das Unternehmen beschäftigt 6000 Menschen, meist junge Frauen zwischen 18 und 35. Hauptkunden sind Adidas und Reebok. Detailliert schildert Kimhour der internationalen Jury des Tribunals ihre finanzielle Situation. "Mein Grundlohn liegt bei 66 Dollar (rund 50 Euro). Mit zwei bis drei Überstunden täglich komme ich auf rund 100 Dollar im Monat. Mein Mann verdient als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau 40 Dollar." Und das sind ihre monatlichen Kosten: 15 Dollar zahlt sie für das 10-Quadratmeter-Zimmer, das sie mit Mann, Sohn, Schwester und zwei Kolleginnen teilt. Fünf Dollar für Wasser und Elektrizität, 75 Dollar für Essen, 20 Dollar für die Schwester, die sich tagsüber um ihren Sohn kümmert. Vor ein paar Monaten musste Kimhour für eine medizinische Behandlung ein Darlehen von 50 Dollar aufnehmen. Dafür zahlt sie jetzt jeden Monat zehn Dollar Zinsen. Geld, um die Schulden zu tilgen, bleibt nicht.

Kambodschanische Bekleidungs- und Schuhfabriken sorgen regelmäßig mit Massen-Ohnmachten für Schlagzeilen, zum Beispiel die Schuhfabrik Huey Chuen, die für Puma produziert. Vor einem Jahr erlitten dort 123 Arbeiter/innen zur selben Zeit Ohnmachtsanfälle. Bei M&V International Manufacturing, wo H&M nähen lässt, kollabierten in zwei Monaten 455 Beschäftigte. Insgesamt gab es im vorigen Jahr 34 solcher Vorfälle mit 2400 Betroffenen. Die Unternehmen führen die Zusammenbrüche ihrer Beschäftigten auf deren schlechte Ernährung zurück. Doch das ist nach Ansicht der Experten vor dem Tribunal nur die halbe Wahrheit. Hinzu kommen Ursachen wie chemische Dämpfe, schlechte Belüftung, hohe Temperaturen, Einschränkungen, die Toilette aufzusuchen, gesetzwidrige Arbeitszeiten von zwölf bis 14 Stunden am Tag und die Angst um den Arbeitsplatz.

Das kambodschanische Arbeitsgesetz erlaubt befristete Verträge bis zu 24 Monaten. Die Praxis sieht anders aus. Noun Chhenhour, 33, aktiver Gewerkschafter, sagt vor dem Tribunal: "Bei M&V International Manufacturing in Kampong Chnnang arbeiten 4650 Menschen, die Hälfte mit einem Drei-Monats-Vertrag, 40 Prozent mit einem Vertrag bis zu sechs Monaten, nur zehn Prozent unbefristet. Nach elf Monaten verordnet das Unternehmen eine Zwangspause von einer Woche. Danach werden die Leute wieder als neue Arbeitskräfte eingestellt."

Dieses Verfahren trifft zuerst die jungen Frauen, denn das Unternehmen spart so das Schwangerschaftsgeld und den Bonus von zwei Dollar pro Monat. Auf diese Sozialleistungen hat nur Anspruch, wer mindestens ein Jahr im Unternehmen beschäftigt ist. Angesichts dieser Unternehmenspolitik haben Gewerkschaften einen schweren Stand. Noun Chhenghour: "Wer einen befristeten Arbeitsvertrag hat, traut sich nicht, mit Gewerkschaftern zu reden, geschweige denn, sich zu engagieren." Besonders berüchtigt für diese Politik sind das Unternehmen Blossom Century, das für den Markt der USA produziert, und International Manufacturing. Dass sich 2010 dennoch fast 50 Prozent der Textilarbeiter/innen am Streik für bessere Mindestlöhne beteiligten, erklärt Chhenghour so: "Die Not ist größer als die Angst." 700 Streikende haben für ihren Einsatz einen hohen Preis bezahlt. Sie wurden fristlos gefeuert, viele von ihnen sind bis heute ohne Arbeit.

Auch Unternehmensvertreter waren eingeladen, der Jury ihre Sicht dazulegen. Gap und der kambodschanische Arbeitgeberverband reagierten nicht, H&M schickte eine schriftliche Stellungnahme. Nur Adidas und Puma stellten sich dem Tribunal. "Wir wollten uns nicht nachsagen lassen, dass wir kneifen", sagt Edel Anit von Puma. "Nach dem Massen-Kollaps haben wir eine unabhängige Untersuchung veranlasst und Vorschläge gemacht, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollten. Wir haben die Behandlungskosten für unsere Arbeiter übernommen."

Die Antwort auf die Frage der Jury, ob die Unternehmen Spielraum sehen, die Mindestlöhne auf die von den Gewerkschaften geforderten 120 Dollar anzuheben, bleiben Puma und Adidas schuldig. Sie gaben jedoch zu, dass eine Lohnerhöhung sich kaum auf die Endpreise auswirken würde. Der Anteil der Lohnkosten an einem T-Shirt oder einer Hose liegt bei 2,8 Prozent.

2012: Die größte 1. Mai-Demo, die Kambodscha bisher erlebt hat

Das Urteil des Tribunals

Angesichts dieser Fakten überrascht das Fazit der Jury nicht: "Das fundamentale Recht auf ein menschenwürdiges Leben wird systematisch verletzt." Um die Existenz der Arbeiterinnen und Arbeiter zu sichern, müsse der Lohn auf 185 bis 200 Dollar angehoben werden. Sie fordert H&M, Adidas und die anderen Global Players auf, es nicht bei Absichtserklärungen zu belassen, sondern existenzsichernde Mindestlöhne als Standard in allen Ländern Asiens einzuführen. Sie appelliert an die UN, die ILO und andere Organisationen, auf die Einhaltung der Menschenrechte in Kambodscha zu achten, damit Gewerkschaften ohne Furcht die Interessen der Beschäftigten wahrnehmen können. Und sie ermuntert die Gewerkschaften, den Kampf um Mindestlöhne fortzusetzen.

Wenige Tage nach dem Tribunal wurden drei Puma-Arbeiterinnen bei einer Demonstration angeschossen und schwer verletzt. Puma hat sich bereiterklärt, die Kosten für die medizinische Behandlung zu übernehmen. Die Täter sind noch auf freiem Fuß. Am Tag der Arbeit fand mit 7000 Menschen die größte 1. Mai-Demonstration statt, die Kambodscha je hatte. Die Hauptforderung: Einführung eines existenzsichernden Mindestlohnes.