EUROKRISE | Wenn die deutsche Regierung ihren Kurs nicht ändert, wird der Euro auseinanderfliegen, sagt Heiner Flassbeck, Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf. Sparen treibe Europa immer nur weiter in die Krise. Stattdessen müssten vor allem in Deutschland die Löhne steigen

ver.di PUBLIK | Griechenland hat gewählt. Ob eine stabile Regierung zustande kommt, ist fraglich. Soll Griechenland im Euro bleiben? HEINER FLASSBECK | Unbedingt. Man kann nicht einfach die Drachme einführen. Das ist ein unglaublich komplizierter Prozess und wird im Chaos enden.

ver.di PUBLIK | Warum? Einige Experten schlagen vor, einfach Euroscheine mit einem Drachme-Stempel zu versehen.FLASSBECK | Aber auch dann müssten Sie diese Scheine überall im Land verteilen. Jede Bank und jeder Geldautomat würde diese neue Drachme benötigen. Überall würden Geld-Transporter umherfahren. Das würden die Leute merken, Panik bekommen - und ihre letzten Euro über die Grenze schaffen oder unter die Matratze legen. Kollektive Panik wäre das Ergebnis.

HEINER FLASSBECK ist Wirtschaftswissen- schaftler und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm die Zehn Mythen der Krise in der Edition Suhrkamp

ver.di PUBLIK | Die Drachme hätte den Vorteil, dass Griechenland schlagartig abwerten könnte und damit wieder wettbewerbsfähig würde. Wenn Griechenland im Euro bleibt: Wie soll es dann seine Exporte steigern? FLASSBECK | Was stimmt: Griechenland muss unbedingt wettbewerbsfähig werden.

ver.di PUBLIK | Bleiben also nur weitere Lohnkürzungen? FLASSBECK | Das allein bringt nichts. Die Griechen haben ihre Gehälter schon stark gesenkt, aber dadurch bricht die Binnennachfrage zusammen, und die Rezession verschärft sich weiter. Es kann nur in einem allmählichen Prozess dazu kommen.

ver.di PUBLIK | Einige Experten schlagen vor, die Griechen sollten eine Parallelwährung einführen. Sie behalten den Euro, aber die Regierung bezahlt nur noch in Schuldscheinen, die auf Drachme lauten. So würde sich - zu niedrigen Preisen - wieder eine stabile Binnennachfrage entwickeln. FLASSBECK | Das ist völliger Schwachsinn. Eine Parallelwährung würde nur noch größeres Chaos verursachen. Denn die Schulden, die von Griechen aufgenommen worden sind, würden ja weiterhin in Euro lauten. Diese Kredite könnten sie aber nicht mehr bedienen, wenn sie nur noch Schuldschein-Drachmen verdienen, die nur die Hälfte des Euro wert sind.

ver.di PUBLIK | Was schlagen Sie also vor? FLASSBECK | Zunächst müssen wir die unsägliche Fixierung auf Griechenland beenden. Es gibt ein Problem ganz Südeuropas einschließlich Frankreichs gegenüber Deutschland. Das muss angegangen werden. Auch Deutschland muss sich verändern. Hier müssen die Löhne steigen, dann gewinnen die anderen Länder allmählich ihre Wettbewerbsfähigkeit zurück.

ver.di PUBLIK | Aber die Staatsschulden sind so hoch, dass die Griechen noch nicht einmal die Zinsen dafür zahlen können. Von Tilgung ganz zu schweigen. FLASSBECK | Die Staatsschulden lassen sich überhaupt nur zurückführen, wenn es Wachstum gibt. Also muss man das Spardiktat beenden und Südeuropa die Möglichkeit geben, allmählich wettbewerbsfähig zu werden. Die Eurozone kommt nicht umhin, in der Übergangszeit die noch vorhandenen Defizite in der Leistungsbilanz zu finanzieren.

ver.di PUBLIK | Inzwischen musste auch Spanien 100 Milliarden Euro vom Rettungsschirm annehmen, um seine Banken zu sanieren. FLASSBECK | Die spanischen Banken haben ein Problem, aber das hat nur zum Teil damit zu tun, dass sie die spanische Immobilienblase finanziert haben. Dieses Problem hätten die Banken auf einem Wachstumspfad leicht stemmen können. Man hat von Seiten der EU Spanien aber verdonnert, heftig staatliche Ausgaben zu kürzen und die Löhne zu senken, was eine unglaublich schwere Rezession ausgelöst hat. Immer mehr Spanier sind arbeitslos, immer mehr Firmen gehen pleite. Sie alle konnten ihre Darlehen nicht mehr zurückzahlen, sodass die Banken auf einer steigenden Zahl von faulen Krediten sitzen. Hinzu kommt jetzt noch eine Kapitalflucht. Das ist nicht die Schuld der Banken, sondern der falschen Wirtschaftspolitik, die nur auf Gürtel-enger-Schnallen setzt. Wieder einmal zeigt sich: Ohne Wachstum gerät die Schuldenkrise außer Kontrolle.

ver.di PUBLIK | Schlagen Sie ein Konjunkturprogramm für Spanien vor? FLASSBECK | Nein. Es würde schon völlig reichen, wenn man einfach die ständigen Sparvorgaben streicht. Wir müssen diesen Kürzungs-Irrsinn beenden. Dann erst kann wieder Wachstum entstehen.

"Der Staat, der weniger kürzt, ermöglicht Wachstum aund muss sich am Ende weniger verschulden; wer nur kürzt, muss sich mehr verschulden."

ver.di PUBLIK | Spanien spart aber nicht grundlos. Im Staatshaushalt klafft ein gigantisches Haushaltsdefizit, das im vergangenen Jahr 8,5 Prozent der Wirtschaftsleistung betrug. Wie soll das finanziert werden? FLASSBECK | Spanien spart nicht grundlos, aber falsch. Das Defizit ist aber zum Teil genau dadurch entstanden, dass so stark Ausgaben gekürzt und Löhne gesenkt wurden, weil es die Rezession dramatisch verschärft hat. Daraus folgt: Der Staat, der weniger kürzt, ermöglicht Wachstum und muss sich am Ende weniger verschulden; wer nur kürzt, muss sich mehr verschulden. Das ist offenbar nicht ganz leicht zu verstehen, aber trotzdem wahr.

ver.di PUBLIK | Aber die Investoren verlangen inzwischen fast 7 Prozent Zinsen für eine Anleihe von zehn Jahren. So hohe Zinsen treiben Spanien in die Pleite. FLASSBECK | Weil die Investoren klüger sind als die Politiker und sehen, dass es so nicht geht. Um die Zinsen kurzfristig zu drücken, muss die europäische Zentralbank die spanischen Staatsanleihen aufkaufen.

ver.di PUBLIK | Als Alternative werden oft Eurobonds diskutiert - also gemeinsame Staatsanleihen aller Euroländer. Was halten Sie davon? FLASSBECK | Eurobonds sind mittelfristig auch eine Möglichkeit. Schneller geht es, wenn die Europäische Zentralbank Staatsanleihen aufkauft, was sie allerdings eigentlich nicht darf.

ver.di PUBLIK | Die Deutschen haben Angst, dass dies eine Inflation erzeugen könnte. FLASSBECK | Dann haben "die Deutschen", wer immer das sein mag, keine Ahnung. Es gibt weit und breit keine Inflation und wird auch keine geben. Wenn Geldwertänderung, dann eher Deflation. Wenn in allen Ländern eine Rezession droht, und die Fabriken auf ihren Waren sitzen bleiben, dann kann es gar keine Inflation geben. Die Preise steigen nicht - sie sinken im Ramschverkauf.

ver.di PUBLIK | Kommen wir noch zu einem anderen Problemland: Italien. Wird es ebenfalls Unterstützung benötigen? FLASSBECK | Auch Italien ist kein Spezialproblem, sondern hat die allgemeine Krankheit der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit. Selbst Frankreich hat große Defizite im Außenhandel. Niemand kann mehr mit den deutschen Unternehmen mithalten, die sich durch systematische Lohnzurückhaltung große Wettbewerbsvorteile verschafft haben. Ausgelöst wurde die dahinter stehende Schwäche der Gewerkschaften natürlich durch Hartz IV, Leiharbeit und die anderen Folterinstrumente einschließlich der Verweigerung eines vernünftigen Mindestlohns.

ver.di PUBLIK | Die Zahl der Problemländer scheint ständig zu wachsen. Jetzt steckt sogar das Musterland Niederlande in einer Rezession. FLASSBECK | Wieso nur die Niederlande? Auch Deutschland ist eindeutig in einer Rezession. Der hiesige Binnenmarkt ist so flach wie immer, und die Exporte sinken, vor allem weil die anderen Euroländer von Deutschland nichts mehr kaufen.

"Wirklichkeitsverweigerung ist in der Politik weit verbreitet. Die saisonbereinigten Arbeitslosenzahlen steigen, alle Konjunkturindikatoren weisen nach unten, und man vermittelt dem Volk den Eindruck von der brummenden Wirtschaft."

ver.di PUBLIK | Die deutsche Regierung vermittelt aber den Eindruck, dass die Wirtschaft brummt und fast Vollbeschäftigung herrscht.FLASSBECK | Klar, Wirklichkeitsverweigerung ist in der Politik weit verbreitet. Die saisonbereinigten Arbeitslosenzahlen steigen, alle Konjunkturindikatoren weisen nach unten, und man vermittelt dem Volk den Eindruck von der brummenden Wirtschaft.

ver.di PUBLIK | Um die Eurokrise abzuwehren, arbeiten Regierung und Opposition momentan an einem Tauschgeschäft: Fiskalpakt gegen Finanztransaktionssteuer. Was wird das bringen? FLASSBECK | Ich sehe den Zusammenhang zwischen den beiden Maßnahmen überhaupt nicht. Es ist zwar vernünftig, alle Finanztransaktionen zu besteuern. Dies würde viele Spekulationsgeschäfte unterbinden, die darauf beruhen, geringe Kursdifferenzen auszunutzen. Aber das hat nichts mit der Eurokrise zu tun. Zudem ist das Tauschgeschäft lächerlich: Der Fiskalpakt sieht noch rigidere Sparprogramme vor, wird also Europa in eine tiefe Rezession oder gar Depression führen - und den Euro zerstören. Das ist so, als würden sie einem Patienten den linken Daumen bandagieren und dafür das rechte Bein absägen. Am Ende ist der Patient tot.

ver.di PUBLIK | Ihr Fazit: Was sollte die deutsche Regierung tun? FLASSBECK | Die Lüftung unter der Berliner Käseglocke einschalten und beginnen, die Zusammenhänge zu verstehen! Der Euro kann nur überleben, wenn alle Mitgliedsländer gleich wettbewerbsfähig sind. Das bedeutet: Die Löhne in Deutschland müssen deutlich steigen, um das Lohndumping der vergangenen Jahre auszugleichen. Außerdem muss man in ganz Europa die Sparprogramme einstellen und das Wachstum stimulieren. Sonst wird die Rezession unkontrollierbar, und die Schulden werden explodieren. Wenn die deutsche Regierung ihren Kurs nicht ändert, wird der Euro auseinanderfliegen.

INTERVIEW: Ulrike Herrmann

Leitkommentar Seite 15

Bloß nicht sparen

Was sind die Ursachen der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman analysiert in seinem Buch in einfacher, gut geschriebener Art und Weise die Gründe, warum die Weltwirtschaft immer noch so tief in der Krise steckt. Er zeigt einen Weg, der seiner Meinung nach aus der Krise führt: Geld ausgeben. Sparen in der Krise ist für ihn der falsche Weg. Sein Buch ist ein überzeugendes Plädoyer gegen das Sparen, denn nur ein gestärkter privater Sektor kann den Aufschwung tragen.

Paul Krugman: Vergesst die Krise. Warum wir jetzt mehr Geld ausgeben müssen. Übersetzt von Jürgen Neubauer, Campus-Verlag, Frankfurt/M., 270 Seiten, 24,99 €

"Der Staat, der weniger kürzt, ermöglicht Wachstum aund muss sich am Ende weniger verschulden; wer nur kürzt, muss sich mehr verschulden."

"Wirklichkeitsverweigerung ist in der Politik weit verbreitet. Die saisonbereinigten Arbeitslosenzahlen steigen, alle Konjunkturindikatoren weisen nach unten, und man vermittelt dem Volk den Eindruck von der brummenden Wirtschaft."