Nicht nur Alte müssen gepflegt werden. Auch mehr als 250.000 Menschen unter 60 sind hilfsbedürftig

War da was? Das Jahr 2011 hatte die Bundesregierung zum "Jahr der Pflege" ausgerufen. Umfassende Reformen im Pflegesystem wurden angekündigt - passiert ist wenig. Nun macht sich ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Gewerkschaften, Berufsverbänden und Selbsthilfe-Organisationen daran, das Thema "Gute Pflege" mit bundesweiten Aktionen auf die Agenda für den Bundestagswahlkampf 2013 zu bringen.

"Weil die Pflege uns alle angeht." Für Benjamin Bloch, Direktor des kleinsten der sechs deutschen Wohlfahrtsverbände, war das Motivation genug, sich mit seinem Verband dem Bündnis für gute Pflege anzuschließen - unmittelbar nach dessen Gründung und als zweiter Wohlfahrtsverband überhaupt. Bloch ist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und als Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main zuständiger Dezernent für deren Altenzentrum. Die jüdischen Menschen, die sein Verband betreut, seien oft einsam, sagt er. Bloch kennt den Zeitdruck, die schwierigen Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal, die schlechte Bezahlung, die Tatsache, dass Menschlichkeit im hektischen Alltag oft auf der Strecke bleibt. Was gute Pflege ausmacht? Darüber muss er nicht lange nachdenken: "Dass sie auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht."

Pflegebedürftig - was ist das eigentlich?

Es ist vor allem diese Idee einer guten, an der Würde und den Bedürfnissen der Menschen orientierten Pflege, die die Mitglieder des Bündnisses für gute Pflege eint. Von ver.di und der Arbeiterwohlfahrt im letzten Frühjahr initiiert, umfasst das Bündnis heute 21 Gewerkschaften, Berufs-, Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Selbsthilfe-Organisationen von pflegenden Angehörigen und Betroffenen. Vom Arbeitersamariterbund über Caritas, Diakonie und das Rote Kreuz bis zur Volkssolidarität, vom Kuratorium Deutsche Altenhilfe über die BAG Selbsthilfe, von der Verbraucherzentrale bis zum DGB reicht die Liste der Mitglieder, die sich für eine gute Pflege politisch starkmachen wollen. Ein Bündnis mit enormem Mobilisierungspotenzial: Insgesamt vertreten die darin vereinten Organisationen mehr als 13,6 Millionen Mitglieder sowie rund 16.500 Pflegeinrichtungen und -dienste, in denen 400.000 Beschäftigte arbeiten und täglich 550.000 Menschen betreut werden.

Auch konzeptionell musste das Bündnis nicht bei Null beginnen. Vorschläge für eine gute Pflege lagen schon seit Anfang 2009 auf dem Tisch: Damals hatte der noch von der Großen Koalition eingesetzte "Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs" seinen Abschlussbericht vorgelegt. So sperrig der Name, so schlüssig die Forderungen. Eine Pflege, die sich vor allem an körperlichen Defiziten und festgelegten Zeitmodulen festmache, sei, so der Beirat, "nicht sachgerecht".

Stattdessen schlugen die Mitglieder des Gremiums eine andere Idee von Pflege vor: Im Zentrum soll der Wunsch jedes Menschen nach Selbstständigkeit stehen. Statt Zeitmodule zu addieren, soll bei der Ermittlung des Pflegebedarfs künftig nach den Einschränkungen gefragt werden, denen eine Person in ihrer Selbstständigkeit unterliegt. Etwa in der Mobilität, beim Lernen, Verstehen oder Erinnern, in psychischer Hinsicht, in der Selbstversorgung oder in ihren sozialen Kontakten. Und dann sollte es darum gehen, welche Hilfen der Mensch braucht, um trotz der Einschränkungen ein gutes Leben zu führen. Der Entwurf der Vorschriften passte auf vier Seiten, das Konzept wurde von allen Seiten gelobt, und dann geschah: nichts.

Teilkasko reicht nicht

Dabei sind sich eigentlich alle einig, dass es so, wie es ist, nicht bleiben kann. Rund 2,4 Millionen Menschen sind in Deutschland pflegebedürftig, und ihre Zahl wird zunehmen. Der Fachkräftemangel ist aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen und knapper Bezahlung in der Pflege längst Realität und wird sich in Zukunft wohl weiter verschärfen. Burnout und Armut durch Pflege erreichen für viele pflegende Angehörige heute schon ein existenziell bedrohliches Ausmaß, weil das Pflegegeld zu niedrig ist und die Pflegeversicherung lediglich als "Teilkaskoversicherung" konzipiert wurde und schon lange nicht alle Kosten abdeckt. Ein Missstand, der besonders Angehörige trifft, die über einen langen Zeitraum chronisch kranke oder behinderte Menschen pflegen. Bundesweit sind über eine Viertelmillion Menschen unter 60 Jahre pflegebedürftig, darunter fast 70.000 Kinder und Jugendliche.

Zwar gibt es bei der Frage nach der künftigen Finanzierung des Pflegesystems im Bündnis durchaus unterschiedliche Ansichten, einig sind sich die Mitglieder aber darin, dass die Einnahmebasis erweitert und einseitige Belastungen für die Versicherten vermieden werden sollen. Auch die solidarische und paritätische Finanzierung sowie eine tarifliche Bezahlung der Beschäftigten und bessere Arbeitsbedingungen sind Konsens.

Forderungen für den Wahlkampf 2013

"Unter dem oft eklatanten Zeitmangel im stationären Bereich leiden alle: die Bewohner, die Angehörigen, die es mitansehen müssen, und die Pflegkräfte", sagt Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft und ebenfalls im Bündnis aktiv. Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte "Pflegeneuausrichtungsgesetz" (siehe Kasten) betrachtet sie - trotz der geringen Leistungsverbesserungen für Demenzkranke - als Etikettenschwindel: "Eine wirkliche Neuausrichtung ist das nicht. So lange der neue Begriff von Pflegebedürftigkeit nicht umgesetzt wird, bleibt es Stückwerk."

Um seinen Forderungen nach grundlegenden Reformen Nachdruck zu verleihen und das Thema Pflege zurück auf die politische Agenda zu holen, plant das Bündnis eine Vielzahl von Aktionen für den Bundestagswahlkampf 2013. Mit einem Brief haben die Mitglieder alle im Bundestag vertretenen Parteien zu Gesprächen zum Thema Pflege aufgefordert. Ihr Ziel: Die Parteien sollen im Bundestagswahlkampf klar sagen, in welche Richtung sich die Pflegeversicherung entwickeln soll. Außerdem wird das Bündnis auf den Parteitagen mit Infoständen präsent sein. Um die Kampagne vor Ort mit Leben zu füllen, sind Gespräche mit den pflegepolitischen Sprechern der Parteien in deren Wahlkreisbüros geplant, darüber hinaus soll es im Sommer eine große Veranstaltung in Berlin geben, die die heiße Phase des Wahlkampfs einläuten wird.

"Das Zentrale an diesem Bündnis ist für mich, dass es die pflegenden Angehörigen, die Pflegebedürftigen und die professionell Pflegenden gleichermaßen im Blick hat", sagt Hanneli Döhner aus dem Vorstand von "wir pflegen", einem gemeinnützigen Verein von Angehörigen. Allzu oft würden sie in der öffentlichen Debatte gegeneinander ausgespielt - und das obwohl sie, etwa in puncto niedriger Bezahlung und geringer öffentlicher Wertschätzung, dieselben Interessen hätten. "Aber allein könnten wir das politisch gar nicht so vertreten."

www.buendnis-fuer-gute-pflege.de

www.armutdurchpflege.de

ver.di fordert die Vollversicherung

Am 1. Januar 2013 tritt das Pflegeneuausrichtungsgesetz in Kraft. Demenzkranke erhalten dann auch ohne Pflegestufe etwas Geld, aber längst nicht genug für ihre Versorgung. Außerdem wird Angehörigen das Pflegegeld zur Hälfte weitergezahlt, wenn sie Pflegebedürftige - etwa während einer Kur - in einer Kurzzeitpflege unterbringen. Der Betrag zur Pflegeversicherung steigt dafür um 0,1 Prozentpunkte. Gleichzeitig wird künftig der Abschluss einer privaten Zusatzversicherung öffentlich bezuschusst. Vor allem dieser "Pflege-Bahr" geht nach Ansicht vieler Expert/innen in die falsche Richtung. Er bedeutet die weitere Privatisierung sozialer Risiken.

Den umgekehrten Weg schlägt ver.di vor: Wie die Pflegeversicherung von einer Teilkasko- in eine Vollversicherung umgewandelt werden könnte, hat der Gesundheitsökonom Professor Markus Lüngen im Auftrag von ver.di untersucht. In seiner Studie hat er erstmals belastbare Zahlen über den zusätzlichen Finanzbedarf vorgelegt.

Das Ergebnis: Würde der Beitragssatz in der Pflegeversicherung um 1,3 Prozentpunkte steigen, ließen sich die kompletten Pflegekosten für alle Versicherten bezahlen. Der Krankenkassenbeitrag könnte dann um 0,3 Prozentpunkte sinken. Zudem wenden die Kommunen derzeit 2,75 Milliarden Euro als "Hilfe zur Pflege" auf. Würde dieses Geld auch künftig aus Steuermitteln zur Verfügung gestellt, könnte der Pflegebeitragssatz um weitere o,3 Prozentpunkte sinken.