Das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum will Lebensbedingungen verändern, nicht nur für Hartz-IV-Empfänger. Beteiligt sind Sozialverbände, Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften und auch Bauernverbände

Mit Milch auf die Barrikaden: Bauern protestieren in Brüssel gegen die niedrigen Preise

von Silke Leuckfeld

Ganze fünf Euro mehr pro Monat gab es. So mager fiel die Erhöhung des Regelsatzes für Bezieher/innen von Grundsicherung (auch Hartz IV genannt) nach dem Sozialgesetzbuch II und Altersgrundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch XII im April 2011 aus. Und selbst diese Erhöhung hatte die Bundesregierung nicht freiwillig beschlossen: Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Höhe der bisherigen Regelsätze "nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" erfüllt. Seitdem hat die Bundesregierung die Regelsätze zweimal erhöht.

Seit dem 1. Januar 2013 erhalten alleinstehende Erwachsene monatlich 382 Euro. Kritiker/innen sehen jedoch auch diese leicht verbesserten Regelsätze, die hinter der Teuerungsrate zurückbleiben, als verfassungswidrig an. Das im Dezember 2012 gegründete "Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum", an dem rund 20 Verbände beteiligt sind, setzt sich deshalb für Regelsätze ein, die dem verfassungsgemäßen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben wirklich gerecht werden.

Der Preis der Milch

"Würden Lebensmittel in Deutschland den Preis kosten, der notwendig ist, um sie herzustellen, hätten wir hier bald Hungeraufstände", sagt Ottmar Ilchmann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V., die sich im Bündnis engagiert. Ilchmann ist Milchbauer in Norddeutschland und rechnet am Beispiel von einem Liter Milch vor: 40 Cent kostet der Liter derzeit ungefähr in der Produktion. Die Landwirte erhalten dafür jedoch nur 32 bis 33 Cent. Wirklich kostendeckend wären 43 Cent, wenn auch ihre Arbeit angemessen entlohnt werden würde. Damit die Landwirte überhaupt einigermaßen zurechtkommen, seien sie auf Subventionen angewiesen. "Auf einem Teil der Kosten bleiben wir dennoch sitzen - beziehungsweise verzichten auf die Entlohnung unserer Arbeit", sagt Ilchmann.

Während sowohl der Handel als auch Molkereien und Schlachthöfe Gewinne im zweistelligen Bereich erzielen, sieht das bei den Landwirten anders aus. Nach einer niederländischen Studie erwirtschafteten sie von 2008 bis 2012 eine "Gewinnspanne" von minus 0,5 Prozent, machten also Verluste. "Die Subventionen aus Brüssel sind unser Hartz IV", stellt Ilchmann fest. "Ohne dieses Geld könnten viele Landwirte nicht überleben."

Höhere Lebensmittelpreise als die derzeitigen können Menschen, die Hartz IV beziehen oder mit ihrem Einkommen knapp darüber liegen, jedoch nicht bezahlen. Das ist den Landwirten, die in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft organisiert sind, bewusst. Deshalb haben sie sich dem Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum angeschlossen.

"In Gesprächen haben uns Hartz-IV-Bezieher gesagt: Wir würden uns auch gern bewusster ernähren, können es uns aber nicht leisten. Wir rechnen euch das mal vor", sagt Ottmar Ilchmann. Solche Aussagen seien für die Landwirte Aha-Erlebnisse gewesen. Damit die Erzeuger angemessene Preise für ihre Produkte erzielen können, müsse deshalb nicht nur der Regelsatz erhöht, sondern auch der gesetzliche Mindestlohn eingeführt werden.

Zahlungskräftige Nachfrage für gute Nahrungsmittel

Aus guten Gründen hat sich die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft Anfang des Jahres gemeinsam mit vielen anderen an einer Protestaktion gegen Niedriglöhne vor einem Schlachtbetrieb beteiligt. Angestoßen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) demonstrierten am 11. Januar rund 200 Menschen vor dem Vion-Schlachthof in Emstek (Süd-Oldenburg). Dort schlachten rumänische Arbeiter für maximal fünf Euro Bruttolohn in der Stunde. Sie werden über einen Subunternehmer beschäftigt.

Bis zum 1. Februar wurden dort zumindest noch die Beschäftigten der ersten Schicht nach Tarif bezahlt. Doch das ist vorbei. Jetzt wird in dem Betrieb ausschließlich durch ein rumänisches Subunternehmen geschlachtet. Arbeitslose finden dort keine existenzsichernde Arbeit mehr.

Und es kommt noch ein Problem hinzu: "Die Tiermastfabriken und Schlachtereien bedeuten nicht nur Überproduktion und Quälerei für die Tiere, sie produzieren zusätzlich auch große Mengen an Gülle und Abgasen", sagt Michael Bättig von der ALSO. Deshalb hätten sich auch Umwelt- und Tierschützer an dem Protest beteiligt. Letztlich sei aber entscheidend, dass es eine zahlungskräftige Nachfrage für gute Nahrungsmittel geben müsse. Nach dem Regelsatz stünden über Hartz IV Alleinstehenden täglich jedoch nur 5,30 Euro für Essen und Trinken zur Verfügung, inklusive Mahlzeiten außer Haus.

"Deshalb reicht es nicht, sich nur für die Umwelt zu engagieren", stellt Michael Bättig fest. Zu niedrige Regelsätze und Löhne würden zu schlechten Produktions- und Einkommensbedingungen führen. Menschen mit niedrigem Einkommen und Bezieher von Hartz IV können sich nämlich nur die billigsten Lebensmittel leisten. Und das ist dann die Begründung der Discounter und Supermarktketten, die Erzeugerpreise und Löhne zu drücken, um Billigpreise anbieten zu können. Bei der Berechnung der Regelsätze wird dann das statistische Konsumverhalten der unteren Einkommensgruppen als Berechnungsgrundlage genommen. Können die Menschen wenig ausgeben, fließen die geringen Ausgaben der unteren Einkommensgruppen in die Statistik ein. Geben die Menschen, wenn auch unfreiwillig, wenig aus, ist das wiederum die Berechnungsgrundlage dafür, das Existenzminimum unrealistisch niedrig zu halten.

Ein Teufelskreis, den das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum durchbrechen will. Das Bündnis will mit Aktionen auf die Situation hinweisen, sie auch Nicht-Betroffenen verdeutlichen und eine breite Debatte darüber anstoßen, was zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dazugehören müsste.

Ende August wird in Wietze bei Celle ein Protestcamp von Bauern und Umweltschützern gegen die Agrarindustrie stattfinden. "Wir diskutieren jetzt in unserem Bündnis, ob wir uns daran beteiligen, um den Zusammenhang zwischen sozialer und ökologischer Frage aufzuzeigen", sagt Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen. "Eine stärker regional und ökologisch ausgerichtete Lebensmittelerzeugung setzt voraus, dass sich die Menschen bessere Produkte auch leisten können."

In einem komplizierten Rechenverfahren hat die Politik den zuvor bereits feststehenden Regelsatz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts "verfassungsgemäß" gerechnet. Das Bündnis hat deshalb konkrete Forderungen erarbeitet: Es geht um transparent ermittelte Regelsätze, um an den tatsächlichen Bedarf angepasste Sätze auch für Kinder und Jugendliche und regelmäßige Erhöhungen entsprechend der Preisentwicklung. Außerdem soll eine unabhängige Kommission die Berechnungen der Bundesregierung im Sinne eines "Bedarfs-TÜVs" überprüfen.

Mindestlohn ist unverzichtbar

Auf einer Fachtagung des Bündnisses im Februar dieses Jahres erklärte Bernhard Jirku, ver.di-Bereichsleiter für Arbeitsmarkt- und Erwerbslosenpolitik, dass rund zwei Millionen Menschen im Land 2010 einen Bruttostundenlohn von weniger als sechs Euro erhalten haben. Für unter sieben Euro Stundenlohn arbeiteten rund 3,5 Millionen Erwerbstätige. Die meisten von ihnen haben Anspruch auf ergänzende Hilfen durch den Staat. Deshalb sei ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde unverzichtbar. Und allgemeinverbindliche Tariflöhne auch.

www.menschenwuerdiges-existenzminimum.org