Dierk Hirschel leitet bei ver.di den Bereich Wirtschaftspolitik

Die soziale Frage beherrscht den Bundestagswahlkampf. Arbeitende Arme, klamme Familien und Altersarmut zwingen die Politik zum Handeln. Selbst Angela Merkel kündigt inzwischen milliardenschwere Wohltaten an. Mehr Sozialstaat gibt es aber nicht umsonst. Und deswegen droht der bisherigen Reichenpflege das Aus. Der Wahltag könnte für Spitzenverdiener, Vermögende und Erben zum Zahltag werden. SPD, Grüne und Linke wollen große Einkommen und Vermögen stärker besteuern, um mehr Geld für Bildung, Infrastruktur und Soziales zu haben. Nach aktuellen Umfragen hält die Mehrheit der Deutschen das für richtig.

In den Arbeitgeberverbänden und neoliberalen Denkfabriken läuten die Alarmglocken. Jetzt versuchen sie, die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierte "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) startete eine große Medienkampagne. Unter dem Motto "Ist das gerecht?" wird der Gerechtigkeitsbegriff neoliberal umgedeutet: Umverteilung ist nicht nötig. Gerecht ist, wenn alle gleiche Chancen haben, heißt es da. Unterstützung kommt vom ebenfalls arbeitgeberfinanzierten Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Die Kölner Ideologiefabrik veröffentlichte eine Gerechtigkeitsstudie mit dem überraschenden Ergebnis: Deutschland wird immer gerechter.

Vor diesem Hintergrund brandmarken der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag & Co Reichensteuern als sozial ungerecht und ökonomisch schädlich. Die oppositionellen Steuerpläne schröpfen angeblich die Mittelschicht, vertreiben die Leistungsträger und vernichten Arbeitsplätze. Und das alles nur, damit der teure Schwächling Staat noch mehr Geld verschwendet.

Inhaltlich laufen die Angriffe ins Leere. Zwar ist die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren wegen des Aufschwungs und guter Tarifabschlüsse nicht mehr größer geworden. Der langfristige Trend zu mehr Ungleichheit bleibt aber ungebrochen. Während der Niedriglohnsektor weiter wächst, kletterten die Geldvermögen auf ein neues Rekordniveau. Zudem funktioniert der soziale Ausgleich über Steuern und Transfers immer schlechter. Folglich sinken die Aufstiegschancen und die Abstiegsrisiken nehmen zu. Eine Politik, die allein auf Chancengerechtigkeit setzt, löst aber das Problem nicht. Der Gleichheit beim Start entzieht die wachsende Ungleichheit den Boden. Aus diesem Grund führt kein Weg an mehr Verteilungs- und Steuergerechtigkeit vorbei.

Reichensteuern sind gerechte Steuern. Sie belasten weder Facharbeiter/innen noch das kleine Sparbuch oder Omas Häuschen. Wenn etwa die grünen Steuerpläne Wirklichkeit werden, dann wird es für Singles mit über 70.000 Euro brutto teurer. Nach dem SPD-Steuerkonzept werden nur diejenigen weniger im Geldbeutel haben, die mehr als 78.000 Euro verdienen. Der höhere Spitzensteuersatz trifft somit weniger als fünf Prozent der Einkommenssteuerpflichtigen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Vermögensbesteuerung. Die Oppositionsparteien wollen Vermögen oberhalb eines millionenschweren Freibetrags mit einem Prozent besteuern. Grüne und Linke planen darüber hinaus eine einmalige Vermögensabgabe. Die geplante Vermögensbesteuerung träfe weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Gleiches gilt für höhere Steuern auf Kapitalerträge und Erbschaften. Die rot-rot-grünen Steuerpläne sind alles andere als ein Verarmungsprogramm für den Mittelstand. Als Reaktion auf eine ähnliche Angstkampagne im Bundestagswahlkampf 1972 titelte Klaus Staeck, seinerzeit Politkünstler: "Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen!"

Auch von einer Reichenjagd kann keine Rede sein. Im letzten Jahrzehnt wurden Topverdiener, Unternehmer, Vermögende und reiche Erben entlastet. Multimillionäre haben heute erheblich mehr Netto vom Brutto. Sie führen weniger als 30 Prozent ihres Bruttoeinkommens an den Fiskus ab. Vor der Jahrtausendwende war es noch fast die Hälfte. Die tatsächliche Steuerbelastung von Unternehmer- und Kapitaleinkommen liegt aktuell bei 20 Prozent. Reichensteuern gefährden weder Wachstum noch Jobs. Hohe Freibeträge auf Betriebsvermögen schonen den Großteil der Unternehmen. Doch selbst in den besteuerten Betrieben droht kein Personalabbau. Geringere Nettogewinne drosseln keine Investitionen. Letztere sind stark abhängig vom erwarteten Absatz und dem technischen Fortschritt. So wird trotz der Steuergeschenke der Schröder- und Merkel-Regierung heute weniger investiert als in den 70er Jahren.

Die Arbeitgeberverbände und ihre Denkfabriken kämpfen mit allen Mittel gegen eine umverteilende Politik. Dafür stellen sie die Lebenswirklichkeit auf den Kopf. ver.di wird gemeinsam mit seinen Bündnispartnern dazu beitragen, dass ihre Lügen kurze Beine haben.

Der langfristige Trend zu mehr Ungleichheit bleibt aber ungebrochen