Annette Mühlberg leitet das ver.di-Referat eGovernment, Neue Medien, Verwaltungs- modernisierung. Sie ist Vorstandsmitglied der europäischen Internetnutzerorganisation der Internetverwaltung (ICANN). Sie war Sachverständige der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestags

Die Nachricht schlug ein ins Sommerloch: Die National Security Agency (NSA) sammle von großen US-Providern die Verbindungsdaten der Kunden ein und durchsuche diese gigantische Informationshalde mit modernsten Methoden nach möglichen Kennungen Verdächtiger, so die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden im Juni. Selbst Inhaltsdaten von E-Mails, Chats, Internet-Telefonaten oder Webdiensten großer US-Konzerne wie Facebook, Google, Microsoft oder Yahoo könnten abgerufen werden, erläuterte der frühere Zuarbeiter des technischen US-Geheimdienstes.

Horrorvisionen einer Big-Brother-Überwachung sind damit kaum mehr von der Hand zu weisen. Der Alptraum hat einen Namen: PRISM heißt das Programm zur Datenanalyse der NSA, Tempora sein britischer Bruder zum Abschnorcheln der Informationsautobahnen gen Übersee. Zwar hatten Ex-Mitarbeiter des Geheimdienstes wie Thomas Drake oder William Binney schon zuvor gewarnt, dass die digitale Technik einem Geheimpolizeistaat in die Hände arbeite und die Aktivitäten der NSA gegen "jedermann weltweit" gerichtet seien. Doch mit den als "top secret" gestempelten Folien Snowdens hat die Welt nun einen Nachweis für die umfassende Bespitzelung.

In Deutschland hat sich das Verfassungsgericht kontinuierlich mit der Frage des Verhältnisses von Datensammlungen und Demokratie auseinandergesetzt und dazu grundlegende Urteile gefällt, etwa zur Volkszählung 1983 und Vorratsdatenspeicherung 2010. Und im Jahre 2008 das Urteil zur Online-Überwachung mit der Definition des "Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Unterdessen jedoch ist eine geheimdienstliche Parallelwelt unter Freunden entstanden, die eben jene klar definierten Grundrechte ignoriert. Ausgerechnet diejenigen, die uns nach dem 2. Weltkrieg demokratische Werte vermittelt und bei der Schaffung unseres Rechtsstaats geholfen haben, missachten unter Mitwirkung hiesiger Organe unsere Grundrechte. Das ist bitter.

Und es gefährdet unsere Demokratie in zweifacher Hinsicht. Erstens wird die Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit durch die anlasslose Überwachung unserer Kommunikation gefährdet, weil ein "diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins", wie es unser Verfassungsgericht 2010 formulierte, zu Duckmäusertum führen und "eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann". Zweitens, weil das Vertrauen in den Rechtsstaat dadurch erschüttert, wenn nicht gar zerstört wird. "Verfassungspatriotismus" als identitätsstiftendes Element der Bundesrepublikaner, wie Jürgen Habermas es in den 80ern formulierte, hätte ausgedient, wenn sich die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaats zwar noch auf das Verteilen von Knöllchen für Falschparker, nicht aber auf die Durchsetzung unserer Grundrechte erstreckte.

Was tun? Zum einen müssen wir für unsere Grundrechte kämpfen, denn sonst ist die Demokratie am Ende. Auf nationaler Ebene haben sich bereits zahlreiche namhafte Autorinnen und Autoren in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel gewandt. Sie fordern rasche Aufklärung der PRISM-Affäre und die Beantwortung der Frage, ob die Bundesregierung dabei sei, "den Rechtsstaat zu umgehen, statt ihn zu verteidigen" (www.change.org/nsa). International fordern unterschiedliche Akteure, unter ihnen der ver.di-Vorsitzende, auf EU-Ebene strukturelle Konsequenzen aus dem derzeitigen Spionageskandal zu ziehen (www.stopsurveillance.org). Zum anderen müssen wir zur informationellen Selbstverteidigung greifen. Datensparsamkeit ist das eine. Die Nutzung von Verschlüsselungsprogrammen und Anonymisierungsservern ist der nächste Schritt, den wir in unseren Alltag integrieren sollten. Dazu benötigen wir auch politische Bündnispartner, um die Technik nutzerfreundlicher zu gestalten.

Und schließlich müssen wir die für unsere Gesellschaft relevanten öffentlichen E-Government- wie privaten IT-Infrastrukturen (wie z.B. Facebook, Google und Amazon) einer genauen Prüfung unterziehen hinsichtlich ihrer Missbrauchsresistenz. Sie bedürfen dringend einer Art demokratischer Technikfolgenabschätzung: von der elektronischen Gesundheitsakte bis hin zum "Internet der Dinge", mittels dessen Überwachungstechnologien in die Alltagsgeräte unserer Wohnungen und Fortbewegungsmittel eingebaut werden sollen. Gegen die Vorratsdatenspeicherung legte ver.di bereits 2008 Verfassungsbeschwerde ein. Und ver.di wird bei der bundesweiten Demonstration gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung am Samstag, 7. September 2013, in Berlin dabei sein. Ihr Motto: Freiheit statt Angst!

"Wir müssen um unsere Grundrechte kämpfen"