An der Charité in Berlin laufen Tarifverhandlungen. Die Beschäftigten und ver.di fordern ausreichend Personal für Europas größtes Uniklinikum. Unterstützt werden sie von dem neuen Berliner Bündnis für mehr Krankenhauspersonal

Erschöpfte Pflegekräfte machen auf sich aufmerksam - hier beim Flashmob auf dem Berliner Alexanderplatz

"Das kann doch nicht sein!" Die blonde junge Frau schüttelt den Kopf. "Doch! Das Krankenhaus ist krank", antwortet die andere. "Die Leute schaffen die Arbeit nicht mehr!" Es ist Ende Juli in Berlin-Mitte, nahe der Charité. Die Passanten haben es eilig. Da steht ihnen plötzlich eine kleine Gruppe im Weg. Zwei Frauen reden so laut, dass es weithin zu hören ist. "300 Arbeitskräfte fehlen hier", ruft die eine. "Die Stellen sind abgebaut. Die noch da sind, haben Burnout und bleiben zu Hause! Immer mehr Leiharbeiterinnen werden eingesetzt, die sich auf den Stationen nicht auskennen. Immer mehr Überstunden sind nötig."

"Und was wird, wenn wir krank werden?", ruft Anna Dohm. "Oder unsere Angehörigen? Was wird aus denen, die heute in der Klinik liegen, wer pflegt die?" Passanten bleiben stehen, stimmen zu. Manche sind gerade auf dem Weg in die Charité; Personalmangel in Kliniken betrifft sie direkt. Eine Frau mit verbundenem Arm nickt. "Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen..."

"Stadtspaziergang" nennen die Aktiven ihre Aktion. Sie gehören zum Berliner Bündnis für mehr Krankenhauspersonal. Viele Aktionen plant das Bündnis, Demos und öffentliche Debatten mit Politikern, damit das Anliegen bekannter wird und der Druck auf die Politik wächst. Und auch, damit viele die Tarifverhandlungen an der Charité unterstützen.

Anna Dohm, eine der Frauen im Straßendialog, ist Politikwissenschaftlerin und schreibt zurzeit an ihrer Doktorarbeit. Sie ist politisch aktiv, der Personalmangel an deutschen Kliniken ist ein wichtiges Thema für sie. Dieser Flashmob, der plötzliche laute Dialog auf der Straße, ist neu für sie. "Ob ich Hemmungen habe? Wieso? Die Botschaft soll rüberkommen!" Eine gute Mindestbesetzung in Krankenhäusern sei ja wohl für alle wichtig. Die Frauen argumentieren laut, ein Wort gibt das andere - als hätten sie das Ganze oft geprobt. Vor dem Haupteingang des Charité-Bettenhauses bekommen sie viel Publikum: Beschäftigte, Patienten, Besucher. Die meisten nehmen die Flyer, die die Medizinstudentin Ina verteilt. Einige tragen sich sofort in die Unterschriftenliste für mehr Krankenhauspersonal ein.

Die Idee entstand in der ver.di-Betriebsgruppe der Charité: ein Berliner Bündnis für mehr Krankenhauspersonal. Nicht nur mit Schwestern und Pflegern, sondern auch Medizinstudent/innen, Ärzten, Klinik-Azubis und anderen Interessierten, Patient/innen. Mit allen, die es angeht. Schon zum Gründungstreffen kamen 100 Leute, viele ver.di-Mitglieder dabei. Das Ziel auf lange Sicht: eine gesetzlich geregelte Personalbemessung an Kliniken. Bei der Ausstattung des Gesundheitswesens wollen viele mitreden.

Patient wird jeder mal

"Wir brauchen hier bei uns mehr Pflegekräfte", sagt Dana Lützkendorf, Krankenschwester auf einer Intensivstation und Mitglied im Charité-Personalrat. "Um das durchzusetzen, ist mehr Unterstützung nötig, mehr Öffentlichkeit. Das Thema wirkt auf die ganze Gesellschaft; jeder kann schließlich Patient werden." Carsten Becker, der Vorsitzende des Gesamtpersonalrats, ergänzt: "Das ist nicht nur unser Thema, sondern das aller Krankenhäuser! Die Arbeitsbedingungen an der Charité sind nicht schlechter als in anderen Kliniken. Aber die Beschäftigten sind bereit, für Verbesserungen zu streiken."

Das Berliner Bündnis will bundesweit Betroffene anregen, ähnliche Gruppen ins Leben zu rufen, in Göttingen, in Hamburg, überall. Bündnisse, die Druck machen. "Auch wenn wir die Tarifverhandlungen für die Charité erfolgreich beenden, arbeitet das Berliner Bürgerbündnis weiter", sagt Becker.

Warnstreiks angekündigt

Doch soweit ist es noch nicht. Öffentliche Aufmerksamkeit und monatelanger Druck der Beschäftigten waren nötig, um den Vorstand der Charité überhaupt zur Aufnahme von Tarifverhandlungen zu bewegen. Die Ankündigung von Warnstreiks hat dann gewirkt. Ende Juli wurde zum ersten Mal verhandelt. Es war ein Auftakt, die nächsten Verhandlungstermine wurden festgelegt. "Und wir haben endlich über unsere Forderungen gesprochen", sagt ver.di-Verhandlungsführerin Meike Jäger. Über das "neuralgische Thema" Mindestbesetzung auf den Stationen. "Wir sind die ersten im Gesundheitsbereich, die das zum Thema von Tarifverhandlungen machen", sagt Carsten Becker. "Je mehr Unterstützung wir dafür bekommen, desto besser."

Am 10. August trafen sich 30 Frauen und Männer aus dem Bürgerbündnis zum nächsten Flashmob. An der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz fielen sie plötzlich um - Leute in Kitteln und Hauben, geschwächt durch Überlastung, unfähig, sich weiter um Kranke zu kümmern. Die Aktion erregte Aufsehen. Neugierige wurden informiert. ver.di will in dieser Tarifrunde für die Charité zum ersten Mal konkrete Quotenregelungen durchsetzen, die die Besetzung von Stationen in den Tag- und Nachtschichten tariflich sichern, und zwar jetzt, noch vor der von der Gewerkschaft geforderten gesetzlichen Regelung. Dass eine Krankenschwester oder ein Pfleger im Nachtdienst auf einer Station allein ist, soll damit künftig verhindert werden. Generell soll eine Pflegekraft für höchstens fünf Patient/innen verantwortlich sein, tagsüber, auf einer Normalstation. Zurzeit ist jede im Tagdienst für bis zu 15 Kranke zuständig. "Nachts ist sie, oder er, allein, im Extremfall mit 38 Patienten. Mit 32 - das ist häufig die Regel. Da herrscht Pflegenotstand", sagt Dana Lützkendorf. Das könne man nicht schaffen, alle wüssten das. "Deshalb sind auch so viele Kollegen gerade in dieser Tarifrunde auf unserer Seite. Weil es uns um diese Forderungen geht."

Der nächste Verhandlungstermin ist der 17. September. Schon für den 7. September lädt das Bürgerbündnis zum Solidaritätstreffen ein, mit Musikern und Künstlern, Betriebsgruppen aus Betrieben und Kliniken bundesweit, mit ver.dianern aus anderen Fachbereichen. "Wer uns unterstützen will, soll unbedingt kommen", sagt Dana Lützkendorf.

Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus

Gegründet am 11. Juli 2013 von der ver.di-Betriebsgruppe der Charité mit Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen, Studierenden, Azubis, Patient/innen und anderen. Anlass: die aktuelle Tarifrunde am Berliner Universitätsklinikum. An der Charité fehlen 300 Pflegekräfte. Nach Erhebungen in einer ver.di-Aktion im Februar 2013 fehlen in den Kliniken bundesweit 162.000 Pflegekräfte.

www.mehr-krankenhauspersonal.de

Website mit Infos, Terminen, Unterschriftenliste und Solidaritätserklärungen aus anderen ver.di-Fachbereichen, auf der jede/r etwas zum Thema sagen kann.

www.facebook.com/ver.di.charite.buendnis

"Notruf: Personalmangel gefährdet Patient/innen"

"Wir Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudierende wissen aus eigener Erfahrung, dass die aktuelle Personalpolitik von immer mehr Kliniken eine medizinisch sinnvolle Versorgung unserer Patientinnen und Patienten erschwert, manchmal unmöglich macht und in Einzelfällen lebensgefährlich ist. Wir fordern eine zunächst tariflich, sobald wie möglich jedoch gesetzlich geregelte Personalbemessung ... und eine Reform der Krankenhausfinanzierung..."

(Aus dem Aufruf des Bürgerbündnisses zu ärztlicher Solidarität)