Ausgabe 01/2014
„Ich versuche das fachlich zu sehen“
„Ich versuche, das fachlich zu sehen“
von Heike Dierbach (Text) und Renate Koßmann (Fotos)
"Wer hilft mir, den Tisch zu decken?" Altenpflegerin Beata Strerath hält einen Stapel Kuchenteller in die Luft. "Die können Sie mir geben", sagt eine kleine alte Dame mit weißem Kurzhaarschnitt. Sie trägt den Stapel zu dem großen Tisch in der Mitte der Wohnküche und stellt an jeden Platz einen Teller. "Es fehlen noch die Gabeln." Beata Strerath lächelt: "Stimmt! Gut, dass Sie daran denken, Frau Bibler!" Frau Bibler* ist hier, weil sie vergisst. Wir würden sagen, sie ist dement. Beata Strerath betont: "Frau Bibler ist dementiell verändert." Vieles sei noch da. "Sie war früher Krankenschwester, Stationsleiterin. Und sie organisiert immer noch gern. Oder, Frau Bibler? Sie helfen uns hier ganz viel." Frau Bibler strahlt.
Es ist Montag, kurz vor zwei Uhr nachmittags im Wohnbereich "Küste" des städtischen Altenheims Windberg in Mönchengladbach. Beata Strerath, Jeans, grüne Bluse, lange blonde Haare, hat heute Spätdienst. Bis 21 Uhr ist die 45-Jährige verantwortlich für zehn betagte Menschen. Von ihr hängt es ab, ob sie sich an diesem Nachmittag und Abend im Heim aufgehoben fühlen oder ob sie einsam sind, ob sie respektiert werden oder beschämt, ob sie teilhaben am Leben oder nur noch warten, dass es vorbei ist. "Das Ziel meiner Arbeit ist, dass sich hier alle wohlfühlen", sagt Strerath, die Pflegerin.
Pflege, das Thema ist für viele ein Alptraum. Für die Politik, weil sie mit der alternden Bevölkerung einen Tsunami an Kosten auf sich zukommen sieht. Für viele Senior/innen, die "Bloß nicht ins Heim!" wollen. Und für das Pflegepersonal, das mit immer weniger Kolleg/innen immer kränkere Menschen versorgen muss. Doch Strerath sagt: "Die Entscheidung für die Altenpflege habe ich keinen Tag bereut." Frau Bibler sagt: "Ich bin sehr gern hier." Und beim Träger des Pflegeheims heißt es: "Gute Pflege ist eine Frage der Haltung. Wenn beim Menschen ein gutes Produkt ankommen soll, dann müssen die, die es erbringen, motiviert und gesund sein."
Nachmittagsprogramm: Die Caprisingers bei der Chorprobe
Produkt: Würde
"Guten Tag, Herr Ruther. Ich möchte Sie jetzt fertig machen zum Aufstehen." Beata Strerath legt dem Mann im Bett eine Hand auf den Arm. Er sieht sie mit großen Augen an, bewegt stumm die Lippen. In der Ecke seines Zimmers läuft der Fernseher: Übertragung einer Bundestagsdebatte, aber ohne Ton. "Herr Ruther war Journalist", sagt Beata Strerath, "er hat mehrere Bücher geschrieben." Jetzt hat er Pflegestufe 3, die höchste. "Ihre Frau kommt bald", sagt Beata Strerath zu ihm, "in der Cafeteria gibt es heute Waffeln." Sie zieht die Vorhänge zu, damit niemand reingucken kann, und schlägt die Bettdecke zurück.
Es riecht ein bisschen. "Herr Ruther, ich mache Sie jetzt unten frisch, ja?" Kaum merkliches Nicken. Vorsichtig öffnet die Pflegerin die große Windel. "Draußen ist es ja jetzt ganz schön kalt geworden." Sie spricht leise, fast zärtlich. "Könnten Sie sich einmal auf die Seite drehen, bitte?" Herr Ruther wendet sich langsam zur Wand. Das ist der Moment, vor dem so viele Senioren Horror haben: Eine fremde Person wischt einem den Hintern ab. "Aber ich versuche, das fachlich zu sehen", sagt Beata Strerath, "ich beobachte dann zum Beispiel genau, wie die Haut aussieht und ob wir Creme brauchen." Zu Herrn Ruther sagt sie: "Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen anstrengend. Aber gleich fühlen Sie sich besser, und dann kommt Ihre Frau."
Strerath geht zum Schrank und holt eine blaue Jacke heraus: "Diese Jacke heute, Herr Ruther?" Er schaut sie lange an, sie wartet. Dann schüttelt er den Kopf. "Lieber die graue?" Nicken. Nach 20 Minuten sitzt Herr Ruther im Rollstuhl, frisch, angezogen, ausgehfein. Über den Urinbeutel hat Beata Strerath einen bunten Stoff gezogen.
Im Haus Windberg gibt es nur Einzelzimmer, wer will, kann seine Möbel mitbringen. Jeder Bewohner steht auf, wann er möchte, und isst, wann er möchte. Jeweils zehn Senioren bilden eine Wohngruppe mit einer gemeinsamen Wohnküche, in der gegessen wird. Die Gruppen sind nach Landschaften benannt und eingerichtet. In der Gruppe "Küste" betreut Beata Sterath zurzeit drei Patienten mit Pflegestufe 3, zwei mit Stufe 2 und fünf mit Stufe 1. "Das kommt vom Aufwand ganz gut hin", sagt sie. Das müsse es auch: "Menschen mit dementiellen Veränderungen kann man nicht unter Stress versorgen. Das merken sie sofort, und dann bekommen sie Angst oder werden aggressiv."
Frau Wagner weiß nicht, wo sie ist. Beata Strerath hilft ihr, sich zu erinnern
Produkt: Teilhabe
Nach dem Kaffeetrinken in der Wohnküche fragt Beata Strerath wieder in die Runde: "Wer hilft mir denn, einen Tomatensalat zum Abendbrot zu machen?" Frau Bibler ist wieder dabei. Frau Wagner ruft: "Ich mach die Zwiebeln!" Auch sie ist dementiell verändert. Strerath verteilt scharfe Messer. Ist das nicht gefährlich? Aber das Schneiden beherrschen die beiden Damen noch perfekt. Herr Kurt schüttelt den Kopf und lacht: "Für mich ist das nichts. Zum Glück haben wir ja genügend Frauen hier!" Alle sitzen um den Tisch, in der Mitte steht die große Schüssel, in die alles hinein kommt, das Radio spielt Schlager. Beata Strerath rührt die Soße. "Herr Wieland, können Sie mal probieren, ob sie so gut ist? Oder ist sie zu sauer?" Sie hält einem Mann im Ganzkörperrollstuhl einen Löffel vor den Mund. Er schluckt. "Ist nicht zu sauer. Aber zu süß." "Meinen Sie? Herr Kurt, könnten Sie vielleicht auch nochmal kosten?" Am Ende wird gemeinsam beschlossen, dass die Soße so bleiben kann. "Es ist sehr wichtig, dass man die Bewohner immer wieder aktiviert", sagt Beata Strerath. Deshalb versucht sie jeden Tag, gemeinsam Essen zu machen. "Manchmal habe ich natürlich zu viel anderes zu tun. Aber meistens schaffe ich es."
Warum klappt in Mönchengladbach, was im Rest Deutschlands scheinbar utopisch ist: genug Pflegepersonal, genug Zeit für die Bewohner, und das auch noch bei Tariflohn? "Unsere Heime sind nicht teurer", sagt Helmut Wallrafen-Dreisow, Geschäftsführer des Trägers Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach GmbH, die fünf Altenheime betreibt. Ein Platz mit Pflegestufe 3 kostet im Haus Windberg beispielsweise 4 302,21 Euro im Monat, davon zahlt die Pflegekasse 1 550 Euro. Hat der Bewohner selbst kein Geld, übernimmt das Sozialamt die Differenz - gute Pflege ist hier also nicht nur etwas für Reiche. "Unser Kapital sind unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter", sagt Wallrafen-Dreisow, "und frei nach Karl Marx investieren wir in dieses Kapital." Der Geschäftsführer, selbst gelernter Altenpfleger, setzt dabei auf Qualifizierung und Gesundheitsförderung: "Der Ausgangspunkt sind die Inhalte. Die Finanzen ergeben sich dann fast von selbst."
Auf fremde Dienstleister wird komplett verzichtet. Eine Gesundheitsmanagerin geht regelmäßig durch die Stationen, schult im richtigen Heben, wirbt dafür, die halbe Stunde Pause am Tag auch wirklich zu nehmen. Probleme können die Mitarbeiter/innen in regelmäßigen Gesundheitszirkeln ansprechen. Sie haben zum Beispiel bewirkt, dass die Geschirrspüler hoch gesetzt wurden. Es gibt Seminare zur "Selbstpflege", kostenlose Massage und einen psychologischen Dienst, an den sich jeder anonym wenden kann. Ergebnis: "Unser Krankenstand liegt unter fünf Prozent", sagt Wallrafen-Dreisow. Allein die Krankmeldungen aus psychischen Gründen seien 2013 um 380 Tage zurückgegangen. "Das spart sehr viel Geld - und erlaubt uns, mehr Pflegepersonal einzustellen." Nebenbei müssen seltener Mitarbeiter/innen an ihren freien Tagen angerufen werden, ob sie nicht doch kommen können. Wenn es mal eng wird, gibt es einen Pool von 60 Teilzeitlern, die vorübergehend aufstocken.
Produkt: Freude
Um kurz vor fünf wird es voll in der Wohnküche. Von den anderen Stationen kommen Bewohner, zu Fuß, mit dem Rollator und im Rollstuhl. Heute wird gesungen. Aber nicht einfach so. "Das ist unser Capri-Chor", sagt Beata Strerath, "am Rosenmontag haben sie einen Auftritt." Ein Keyboard wird ausgepackt. Nach dem ersten Ton hallt es durch die Flure: "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt..." Frau Bibler und Frau Wagner singen lauthals mit, auch Herr Wieland bewegt die Lippen, eine Assistentin hält ihm die Noten. Man fühlt sich eher wie in einer Kneipe als wie im Heim. Strerath steht am Tresen, schmiert Brote und lächelt: "Das sind die Momente, die Spaß machen." Seit sieben Jahren ist die gebürtige Polin Altenpflegerin, vor zwei Jahren hat sie die Teamleitung übernommen. "Alte Menschen haben so viel zu erzählen", sagt sie, "ich lerne hier auch ganz viel." Wenn sie es körperlich schafft, möchte sie bis zur Rente in ihrem Beruf arbeiten.
Damit wäre sie in Deutschland die Ausnahme. Der Mangel an Pflegekräften entsteht auch dadurch, dass viele früh aus dem Beruf aussteigen - wegen der ständigen Überlastung oder körperlicher Probleme. Die Sozial-Holding versucht mit verschiedenen Programmen gegenzusteuern. Wer Rückenbeschwerden hat, kann umsatteln zur Betreuungsassistentin. Für Mitarbeiter über 50 gibt es spezielle Seminare. Und von den Auszubildenden sind einige deutlich über 40. "Personalprobleme haben wir nicht", sagt Wallrafen-Dreisow, "es gibt immer genügend Bewerbungen."
Herr Wieland darf im Bett rauchen - aber nur unter Aufsicht
Produkt: Trost
Beim Abendessen fehlt Frau Liedloff. "Sie hat vorhin eingekotet", berichtet Alltagsassistentin Brigitte Grieger, "und dann hat sie sehr geweint." Grieger ist für die Nachbarstation verantwortlich, aber die beiden Kolleginnen helfen sich, wenn sie können. "Das ist Frau Liedloff noch nicht oft passiert", sagt Beata Strerath, "ich geh nachher mal zu ihr." Als sie die anderen Bewohner zurück aufs Zimmer gebracht hat, klopft sie bei Frau Liedloff. "Ich wollte mal sehen, ob es Ihnen schon ein bisschen besser geht. Soll ich Ihnen vielleicht das Abendbrot hierher bringen?" Nein, die alte Dame mag nichts essen. Aber als sie die Pflegerin sieht, lächelt sie schon wieder ein bisschen. "Möchten Sie denn noch ein bisschen fernsehen?" fragt Beata Strerath. Das Malheur selbst thematisiert sie nicht. "Ich komme nachher nochmal bei Ihnen vorbei, okay?" "Ja, das ist nett", sagt Frau Liedloff, "danke!" Beata Strerath schließt leise die Tür. "Das ist das Schöne an dem Beruf. Man bekommt sofort etwas zurück."
Zwei Stunden Dienst liegen jetzt noch vor ihr, und sie hat ein volles Programm: Herr Ruther und Herr Wieland müssen vom Rollstuhl zurück ins Bett und eine frische Windel bekommen, dann will Herr Wieland im Bett noch eine Zigarette rauchen. Das darf er, "aber es muss einer von uns dabei sein", sagt Beata Strerath. Bei Herrn Kurt werden die Beine eingecremt, Frau Bibler braucht Hilfe beim Ausziehen. Und dann ist da noch Herr Müller, der wohl nicht mehr lange leben wird. Beata Strerath kennt ihn, seit sie hier ist. "Natürlich nimmt einen das schon mit, wenn jemand stirbt", sagt sie, "aber ich versuche dann, die letzte Zeit hier schön zu gestalten. So, dass er auch friedlich gehen kann."
Produkt: Sicherheit
Strerath ist gerade fertig mit ihrer Runde, da steht Frau Wagner auf dem Flur, im türkisen Bademantel, die Stirn in Sorgenfalten. "Wo bin ich denn hier? Wie komme ich hierher?" Sie kämpft mit den Tränen. "Sowas ist mir ja noch nie passiert. Bin ich denn verrückt?" Strerath legt ihr die Hand auf die Schulter: "Frau Wagner, Sie sind hier im Heim. Ich bin Beata. Wollen wir mal zusammen wieder in Ihr Zimmer gehen?" Sie hilft ihr zurück ins Bett und hockt sich davor. "Wir beide haben uns schon kennengelernt. Können Sie sich daran erinnern?" Frau Wagner schüttelt den Kopf. "Den Lucas, kennen Sie den vielleicht?" Lucas ist der Freiwillige im Sozialen Jahr. "Ja, den kenne ich!" "Der ist morgen auch wieder hier." Frau Wagner entspannt sich etwas. "Aber warum weiß ich denn nicht, wie ich hierherkomme? Bin ich denn verrückt?" Beata Strerath lächelt milde. "Sie hatten heute einfach einen sehr anstrengenden Tag, Frau Wagner. Sie haben uns geholfen, Tomatensalat zu machen, und dann haben Sie gesungen. Da kann man schon mal durcheinander kommen." "Meinen Sie?" "Ganz bestimmt. Aber jetzt sind Sie hier in Ihrem Bett, in Ihrem Zimmer, und morgen geht es Ihnen bestimmt schon viel besser." Frau Wagner lässt sich ins Kissen sinken. "Ja, es wird wohl am besten sein, wenn ich jetzt schlafe. Dankeschön!" Sie versteht immer noch nichts. Aber bei dieser Pflegerin scheint sie in guten Händen zu sein.
Für die eigentlich notwendige intensivere Betreuung von Menschen mit Demenz bräuchte auch die Sozial-Holding Mönchengladbach mehr Geld, sagt Wallrafen-Dreisow. "Mit dem geplanten neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit wird das hoffentlich kommen." Aber vieles andere sei nur eine Frage der Werte und der Haltung. "Niemand hindert andere Träger daran, es genau so wie wir zu machen. Wenn man die Mitarbeiter fair behandelt und fair bezahlt, mindestens tariflich, dann bringen sie auch eine gute Leistung."
Beata Strerath deckt in der Wohnküche den Frühstückstisch für morgen. Gleich wird sie noch eine Viertelstunde Dokumentation machen, dann die Übergabe an die Nachtwache. Bevor sie geht, macht sie noch eine letzte Runde durch die Zimmer. Morgen um halb sieben wird sie wieder hier sein. Sie wird Herrn Ruther, Herrn Wieland und Herrn Müller frisch machen, mit Frau Bibler scherzen, vielleicht wieder Frau Wagner beruhigen. Acht Stunden lang wird sie dafür sorgen, dass sich alle wohlfühlen. "Altenpflege ist kein leichter Beruf", sagt sie, "aber ein schöner." Wenn man genug Zeit hat, um ihn gut zu machen. Das Produkt ist ein gutes Leben für alte Menschen.
* Alle Namen von Bewohnern geändert
Mehr Geld und mehr Personal
Schlechte Bezahlung, zu wenig Personal, Stress und Überlastung - so sieht der Pflegealltag in Deutschland im Normalfall aus. ver.di setzt sich deshalb für eine deutliche Aufwertung der Pflegeberufe ein. Dazu gehören bessere Arbeitsbedingungen und wesentlich mehr Geld. Die Gewerkschaft fordert eine Bezahlung von mindestens 3 000 Euro brutto monatlich, die der hohen Verantwortung der Beschäftigten, ihrer Leistung und großen Belastung gerechter wird. Bislang beträgt das Durchschnittseinkommen aller Pflegeberufe 2 410 Euro, wobei examinierte Altenpflegerinnen mit durchschnittlich 2 190 Euro am schlechtesten bezahlt werden.
Eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen lässt sich zudem nur mit genug Personal erreichen. Während beispielsweise in Norwegen eine Pflegekraft im Krankenhaus im Schnitt 3,8 Patienten versorgt, sind es in Deutschland 10,3 Patienten. Laut einer ver.di-Befragung im letzten Jahr fehlen allein in deutschen Kliniken 162 000 Vollzeitkräfte, darunter 70 000 in der Pflege. Das ist belastend für die Pflegekraft und im Akutfall lebensbedrohlich für die Patienten.